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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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ob Jonas wohl jemals wenigstens daran dachte. Er tat immer so, als erinnere er sich an überhaupt nichts, aber die Narbe würde ihn doch daran erinnern? Ihn ans Freundesein erinnern und daran, was das wirklich bedeutete. Dabei ging es doch nicht nur um gute Zeiten, es ging auch um schlechte. Es ging ums Zusammenhalten und um Opfer. Es ging darum, etwas für jemanden zu tun und keine Gegenleistung zu erwarten.
    Außer vielleicht Dankbarkeit.
    Danny Marsh starrte in den Spiegel und sah zu, wie sein Gesicht mit den Tränen kämpfte. Trotz ihrer unsteten Liebe war es, als verlöre er mit dem Tod seiner Mutter auch jenen Teil von sich, der ein schuldloser Junge war.
    Jetzt gab es niemanden mehr auf der Welt, an den er sich wenden konnte. Nicht einmal seinen Vater, von dem man nicht erwarten konnte, so spät im Leben noch zur Realität aufzuschließen.
    Und Jonas Holly  – der ihm alles schuldete  – hatte sich niemals auch nur bei ihm bedankt.
     
    Jonas verabreichte Lucy ihr Zeug. Im Laufe der Jahre war er besser darin geworden, zur Routine jedoch war es nie geworden, den Abwasch zu machen und dann seiner Frau Nadeln
in die Hüfte zu stechen. Die kleinen tiefblauen Flecken vergingen nicht, sie verfärbten sich lediglich braun und verschwanden unter neuen Malen.
    Jetzt blickte er auf sie hinab, wie sie zusammengekrümmt auf der Seite lag, das geschundene Hinterteil entblößt, und er konnte ihre Verletzlichkeit kaum ertragen. Er wünschte, Dr. Wickramsinghe könnte hier sein, wünschte, der Arzt könnte empfinden, was er empfand, wenn er auf Lucy hinunterschaute, wünschte, er könnte die Furcht empfinden, die in ihm glomm und die er niemals zu zeigen wagte.
    Sie hob den Kopf und sah sich nach ihm um; ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen.
    »Hör auf, meinen Hintern anzuglotzen, du Lüstling!«
    Jonas lächelte. Er zog ihre Schlafanzughose wieder hoch und glitt dann hinter ihr aufs Sofa, bog seine langen Beine in ihre Kniekehlen und zog ihren Körper zu sich heran, so dass sie sich überall berührten. Sie legte ihre Hand über seine, und er vergrub die Nase in ihrem Nacken.
    »Gehst du noch raus?«, fragte sie leise.
    Jonas erstarrte. Warum wollte sie das wissen? Plante sie irgendetwas? Er erlebte einen Augenblick blanker Panik, als die Erinnerung an jenen Tag durch sein Gehirn brandete wie ein Brecher in einem Felsenbecken. Ihre halboffenen Augen und ihre kalten, kalten Hände, und die unendliche Ewigkeit, bis der Krankenwagen gekommen war, während er die ganze Zeit hinter seiner Haustür auf dem Boden gesessen und sie angefleht hatte, ihn nicht zu verlassen. Die Erinnerung war so stark, dass er spürte, wie sich sein Magen vor Angst verkrampfte und Tränen in seinen Augen brannten.
    Er räusperte sich und gab sich gewaltige Mühe, ganz normal zu klingen. »Ich muss nicht.«
    »Mir macht’s nichts aus«, erwiderte sie und drückte seinen Handrücken.
    Es hörte sich an wie die Wahrheit, aber wer konnte sich da sicher sein?

    Sie lagen eine Weile so da, und er wusste, dass sie verschiedene Dinge dachten, auf unterschiedliche Art und Weise, und dass ein ganzes Universum ihre Gedanken voneinander trennte, auch wenn ihre Körper ihre Wärme miteinander teilten.
    »Ich liebe dich«, flüsterte er so leise, dass sie ihn niemals gehört hätte, wenn seine Lippen nicht gegen ihr Ohr gedrückt gewesen wären.
    Sie zögerte fast unmerklich, dann sagte sie: »Ich dich auch.«
     
    Im Laufe des Nachmittags hatte es geschneit und wieder aufgehört; nur ein paar Zentimeter waren liegen geblieben. Der Mond wurde groß, und die Wiesen sahen in seinem Schein eisblau aus. Im Dorf jedoch war der Schnee zu Matsch zertrampelt worden, der in den sinkenden Temperaturen der Nacht gefroren war und für gefährliche Glätte sorgte.
    Jonas ging vorsichtig die Straße hinauf, am Pub, an der Kirche und an Mr. Jacobys Laden vorbei zur Schule, ohne irgendjemanden zu Gesicht zu bekommen.
    Auf dem Rückweg machte er beim Laden Halt und schaute ins Fenster, las die kleinen Karten, die dort befestigt waren und Kätzchen zum Verschenken und Fahrräder zum Verkauf anpriesen. Dabei musste er an den Zettel denken, den er unter seiner Windschutzscheibe gefunden hatte, und wieder überkam ihn dieses unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte sich um, sah jedoch niemanden. Dann tappte er rückwärts in den Durchgang neben dem Laden, wo er nicht zu sehen war, und kam sich dabei ein wenig blöd vor. Von dort aus musterte er die Häuser auf

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