Der bessere Mensch
bedienen ihm schon fast zu viel an Konzentration abverlangte. Warum war er denn nicht liegen geblieben? In diesem Zustand war er ohnehin niemandem eine Hilfe. Doch das war das Problem, wenn man mit Kamp zechte: Obwohl es dem Oberst bestimmt ebenso lausig ging, saß er sicher seit acht Uhr an seinem Schreibtisch und sah den Alka-Seltzer-Tabletten beim Sprudeln zu. Weil er seinem Major ein Vorbild sein wollte. Und Schäfer wollte sich wiederum vor Kamp keine Blöße geben. So saßen sie beide untätig herum und leckten ihre Wunden, wussten um die gemeinsamen Qualen und würden den anderen auf keinen Fall stören. Irgendwas ist ziemlich bescheuert an dieser Gleichung, dachte Schäfer und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Wenn es wenigstens nur der Kopf wäre, der ihm wehtat. Doch das Gespräch in der Nacht zuvor, Kamps Hinweis auf seinen Gesundheitszustand, er konnte nicht anders, als dem Oberst recht zu geben. Als die ersten Vögel schon den nahenden Tag eingestimmt hatten, hatte ihm Kamp im Vertrauen zu verstehen gegeben, dass sich auch Bergmann besorgt gezeigt hatte. Kurz war Schäfer erbost gewesen über die Illoyalität seines Assistenten. Doch hatte dieser ihn nicht selbst wiederholt ermahnt, sich zu schonen? Und er hatte nichts davon ernst genommen, hatte seine körperliche Kraft als Beweis dafür angesehen, dass nichts ihn zu Boden bringen könne. So gesehen musste er Kamp und Bergmann dankbar sein. Sie machten sich Sorgen um ihn, ließen ihn nicht in die offenen Messer rennen, die er selber schliff. Doch jetzt: dieser Fall, den er unbedingt klären wollte. Wo er ab übermorgen dazu verdammt sein würde, in der Salzburger Altstadt die Bitten japanischer Touristen zu erfüllen, sie vor dem Mozartdenkmal zu fotografieren. Oh Schäfer, armer schwarzer Kater, armer schwarzer Kater!
Kurz vor Mittag wachte er auf, fühlte sich immerhin wieder fit genug, um in die Kantine zu gehen. Er bestellte den faschierten Braten mit Kartoffelpüree und setzte sich an einen freien Tisch. Falscher Hase, falsches Leben, grummelte er vor sich hin und tat sich selbst leid, während er, mit der Nase fast im Teller, sein Mittagessen verzehrte; es wird Zeit, dass Bergmann zurückkommt – der alte Bergmann! – und Ordnung in das Chaos bringt.
Nach dem Essen schickte er eine SMS an Schreyer: Sobald er auf den Beinen sei, solle er sich bei ihm melden. Zehn Minuten später stand der Inspektor im Büro.
„Das ging aber flott“, meinte Schäfer, der sich gerade einen doppelten Espresso machte. „Auch einen Kaffee?“
„Danke, nein … der macht mich immer so schummrig …“
„Schummrig … aha … na, das ist dann nichts … hör zu: Ich brauche die gesamte Kastor-Akte. Das dürfte ein ziemlicher Berg sein und ich weiß gar nicht, wo das alles verstreut ist … aber frag dich einfach durch und schaff mir das Zeug so schnell wie möglich heran … kriegst du das hin?“
„Kein Problem … mache ich gerne.“
„Danke … du hast was gut bei mir.“
Viktor Krepp, las Schäfer anschließend auf der Notiz, die Schreyer Mladics Akte beigefügt hatte; führte eine Spenglerei am Währinger Gürtel in den U-Bahn-Bögen. Wenn er Bergmann besuchte, könnte er davor dort vorbeischauen. Mit Kamp sollte er auch noch sprechen. Doch irgendwas hielt ihn davon ab, den Oberst anzurufen. Vielleicht die ungewohnte Vertraulichkeit, in der sie den Vorabend verbracht hatten. Der Alkohol hatte ihnen Hirn und Herz aufgetan – oder zumindest den Mund – und jetzt verkrochen sie sich beide in der Defensive, um die korrekte Distanz wiederherzustellen. Nun, Schäfers Zeit in Salzburg würde es ihnen leichter machen.
Als er kurz nach fünf sein Fahrrad aus der Tiefgarage ins Freie schob, ließ die Hitze seinen Kreislauf einbrechen. Benommen und mit schwachen Beinen setzte er sich auf den Sattel und zwang sich loszufahren. Nach ein paar flauen Minuten hatten die Bewegung und der Fahrtwind ihn so weit stabilisiert, dass er nicht mehr um sein Leben fürchtete. Was war er nur für ein Idiot.
In Krepps Spenglerei unter den alten Arkadenbögen der U-Bahn war es angenehm kühl. Schäfer stand in der aus einem einzigen großen Raum bestehenden Werkstatt und wartete, bis der Spenglermeister mit einem Gehilfen die Scheibe einer Balkontür fertig eingepasst hatte. Er mochte den Geruch von Spenglereien, diese einzigartige Mischung aus Fensterkitt, Metall und Farben. Wer an so einem Platz arbeitet, kann kein schlechter Mensch sein, dachte er, während Krepp sich
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