Der Bilderwächter (German Edition)
in die Augen.
» Darf ich eine Weile bei dir bleiben, Marten?«
Zuerst glaubte er, sich verhört zu haben. Doch dann realisierte er, dass es ihr ernst war mit ihrer Bitte.
» Ich kann auf dem Sofa schlafen, und ich werde versuchen, dir nicht zur Last zu fallen.«
Wie konnte sie glauben, je eine Last für ihn zu sein?
Der Wunsch, sie zu berühren und ihr seine Gefühle zu zeigen, wurde übermächtig.
» Bleib, solange du magst«, sagte er.
Vor Erleichterung wurde ihr Gesicht ganz weich. Sie schob die Hand über den Tisch und verschränkte ihre Finger mit seinen.
Er schnappte nach Luft.
» Danke, Marten. Das werde ich dir nie vergessen.«
Sie würde bei ihm bleiben. Das war alles, was zählte.
*
Ich fand einen Parkplatz in der Nähe des Hauses, in dem Ilka ihr Zimmer hatte. Wir stiegen aus und schauten uns um. Eine gute Gegend zum Wohnen, direkt am Hofgarten und so nah an der Kunstakademie.
» Wir haben sie hier nur ein einziges Mal besucht«, sagte ich, und das schlechte Gewissen nagte an mir.
» Hör auf zu reden, als wär sie schon tot!«, zischte Merle. » Das Trauern und die Selbstvorwürfe kannst du dir für den Ernstfall aufsparen, und der ist ja wohl noch nicht eingetreten.«
» Ich liebe dich auch«, sagte ich und hakte mich bei ihr unter.
» Entschuldige.« Merle drückte meinen Arm. » Ich bin total durch den Wind.« Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter. » Was mich am meisten beunruhigt, ist die Sache mit ihrem Handy.«
» Ich glaube, sie hat es in der Eile vergessen. Wir sollten aufhören, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn sie uns anrufen will, findet sie einen Weg.«
Um irgendwo anzufangen, klingelten wir bei der Nachbarin, die wir bei Ilkas Einzug kurz kennengelernt und mit der wir vorhin bereits flüchtig telefoniert hatten.
Sie bat uns mit einem freundlichen Lächeln herein.
Auf jeder freien Fläche lagen Bücher. Auf einem Couchtisch stand zwischen ausgebreiteten Computerausdrucken ein aufgeklappter Laptop neben einem Teller mit den unappetitlichen Resten eines Leberwurstbrötchens.
» Hier sieht es ja schwer nach Arbeit aus«, bemerkte Merle.
Ilkas Nachbarin hieß Annikki und war Finnin. Sie studierte Medizin in Helsinki und war für ein Jahr nach Deutschland gekommen, weil sie sich in einen deutschen Studenten verliebt hatte. Annikki hatte einen hinreißenden Akzent. Das dunkle Haar reichte ihr fast bis zur Taille und war so seidig und glatt, dass man Lust bekam, hineinzugreifen, um es gründlich zu zerzausen.
» Ja. Schrecklich«, antwortete sie. » Wie sagt man in Deutschland: Die Arbeit ist das halbe Leben? Bei mir ist es gerade das ganze.« Stöhnend verdrehte sie die Augen.
» Annikki«, sagte ich. » Wir machen uns wahnsinnige Sorgen um Ilka. Hat sie mit dir über ihre Probleme gesprochen?«
» Wir sind erst einige Male bummeln gegangen.« Annikki räumte das Sofa für uns frei. » Und haben uns gegenseitig besucht. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass sie von etwas … wie sagt man … gequält wurde. Was ist denn überhaupt los?«
» Sie ist verschwunden«, erklärte Merle. » Und wir haben keine Ahnung, wo sie steckt. Bei dir hat sie sich also nicht gemeldet?«
» Nein. Das habe ich euch ja schon am Telefon gesagt.«
» In ihrem Zimmer kann sie auch nicht sein?«
Annikki schüttelte den Kopf. » Das würde ich hören. Außerdem – wieso sollte sie sich vor mir verstecken?«
» Hat sie hier Freundschaften geschlossen?«, fragte ich, ohne darauf einzugehen.
» Freundschaften?« Annikki legte nachdenklich die Stirn in Falten. » Nicht dass ich wüsste.« Ihre Stirn glättete sich wieder. Feine Linien waren zurückgeblieben.
» Gibt es jemanden, der sie öfter besucht hat?«
» Guckt euch mal um.« Annikki zeigte auf die Bücher und das ganze Durcheinander. » Ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Ich kriege kaum noch mit, was um mich herum geschieht.«
» Du kannst uns also keinen Tipp geben, an wen Ilka sich hier in Düsseldorf wenden würde, wenn sie mit irgendwas nicht zurechtkäme?«
» An euch, hätte ich gedacht.«
Mit ihrer Bemerkung traf sie mich mitten ins Herz. Auch Merle neben mir saß plötzlich wie erstarrt. Doch sie hatte sich schneller wieder gefasst.
» Wenn sie das getan hätte, wären wir jetzt nicht hier«, sagte sie kühl. » Aber anscheinend kannst du uns nicht weiterhelfen. Entschuldige, dass wir hier so reingeplatzt sind.«
» Ich halte gern Augen und Ohren offen«, versprach Annikki. » Sobald ich irgendwas von
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