Der Bilderwächter (German Edition)
Versprechen für Ilkas Mutter und für sich selbst:
Er würde Ilka finden.
*
Es war seltsam, allein in dieser fremden Wohnung zu sein. Ilka stellte sich ans Fenster des Arbeitszimmers und blickte zu dem Haus auf der anderen Straßenseite.
Der kleine Junge kauerte auf der Fensterbank, die Hände gegen die Glasscheibe gepresst, und starrte sie an.
Sie starrte zurück.
» Wer zuerst blinzelt oder wegguckt, hat verloren, verloren, verloooren!«
Ruben gewann immer bei diesem Spiel. Er spielte es gern, obwohl Ilka es hasste, angestarrt zu werden.
Manchmal, wenn er sie wieder dazu zwingen wollte, kniff sie die Augen zu.
Nein! Nein! Nein!
» Mach die Augen auf.«
» Ich will nicht!«
» Du sollst die Augen aufmachen.«
» Lass mich, Ruben!«
Sie drehte sich weg von ihm und er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Seine Wut kam immer so unerwartet. So schnell. Sie richtete sich dann gegen jeden, der ihm über den Weg lief.
Der Hund kroch winselnd unter den Tisch. Ilka beneidete ihn, denn es gelang ihm meistens, sich rechtzeitig vor Rubens Tobsuchtsanfällen in Sicherheit zu bringen.
» MACH DIE AUGEN AUF !«
Ruben umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und drückte so fest zu, dass sie gehorchte.
» Und jetzt sieh mich an.«
Manchmal gelang es ihr, ihn anzusehen, ohne ihn zu sehen. Doch meistens merkte er es, wenn ihr Blick verschwamm, und er holte sie zurück, indem er ihr wehtat.
» Siehst du mich jetzt endlich richtig an?«
Ihre Augen fingen an zu brennen. Ihre Lider zuckten. Sie blinzelte.
» Du bist keine Herausforderung«, sagte Ruben verächtlich und ließ sie stehen. Er pfiff nach dem Hund, doch der blieb, wo er war.
» Hallo, kleiner Junge«, flüsterte Ilka.
Im selben Moment hob der Junge die Hand und winkte ihr zu.
*
» Himmelgeist«, sagte Merle. » Was für ein bezaubernder Name.«
Der Gutshof war aus hellem Sandstein erbaut und hätte mit seinen beiden runden Türmen und den schön geschwungenen Linien ebenso gut ein Schloss sein können.
Bestimmt kletterten im Sommer duftende Rosen an den dicken Mauern empor. Die Fensternischen waren wie geschaffen für verliebte Taubenpaare und unter dem Dach klebten alte Schwalbennester.
Es gab mehrere Nebengebäude von der Größe normaler Einfamilienhäuser. In einem war ein Café untergebracht, in dem bereits reger Betrieb herrschte.
Wir hatten den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt, einer einfachen Schotterfläche ohne Markierungen und ohne Absperrbänder, und schlenderten nun über das Gelände, um uns einen ersten Eindruck zu verschaffen.
Das Publikum war gemischt. Es gab Jung und Alt, Pelzmäntel und Steppjacken, Buggys und Rollatoren, Arm und Reich, Abgedreht und Spießig. Studenten verteilten Informationsmaterial. Professoren begrüßten einzelne Gäste.
Wir erkundigten uns nach dem Ablauf der Veranstaltung und erfuhren, dass die Werke, die versteigert werden sollten, in der Kulturscheune ausgestellt waren und dass man die Möglichkeit hatte, sie vorher anzuschauen.
» Dann machen wir das doch«, sagte Merle und zog mich zu der Scheune, die mit Tannengrün und Hunderten von Lichtern geschmückt war.
Am Eingang mussten wir drei Euro Eintritt bezahlen. » Für einen guten Zweck«, erklärte die Dame, die zwei Karten von einer dicken Rolle abriss und sie uns mit einem Faltblatt reichte, das als Katalog dienen sollte. Jedem Kunstwerk war eine Nummer zugeteilt worden. Daneben standen ein Titel und der Name des Künstlers.
» Hier!« Merle hielt mir den Folder aufgeregt hin und stach mit dem Finger auf einen Namen. » Nummer siebzehn. Vogelbeeren. Ilka Helmbach.«
Wir betraten die Scheune und suchten zielgerichtet nach Ilkas Bild.
Als wir es entdeckt hatten, wurden wir ganz still.
Die Frau, die uns von der zwei mal zwei Meter großen Leinwand entgegenblickte, hatte ein Gesicht, das aus Flächen unterschiedlicher Farben bestand. Das Haar umspielte es in einer Wolke aus Orange. Ein Auge war ein bisschen höher gesetzt als das andere. Dadurch geriet das Gesicht in eine Art Schieflage, die ihm etwas Unheimliches verlieh.
Auf dem Kopf der Frau saß ein blauer Vogel, der eine leuchtend rote Beere im Schnabel hielt. Der Vogel starrte dem Betrachter direkt in die Augen. Er hatte etwas Böses an sich, das einem Schauer über den Rücken laufen ließ. Aus der Beere tropfte roter Saft und rann über die Stirn der Frau und über die Wange bis zu ihrem Mund. Sie fing ihn mit der Zungenspitze auf.
» Ist das Saft«, fragte Merle, »
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