Der Bilderwächter (German Edition)
nach der Türklinke ausstreckte, wandte er sich kurz um und warf einen Blick auf ihr Fenster.
Sah ihr direkt in die Augen!
Aber … er konnte sie doch hinter der Gardine gar nicht erkennen. Dieser winzige Spalt war von außen und auf diese Entfernung doch überhaupt nicht wahrzunehmen und ihr Gesicht im dunklen Zimmer erst recht nicht.
Emilia wartete, bis der Mann in Rubens Haus verschwunden war, dann ließ sie die Gardine los. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie ging zur Kommode und nahm das Päckchen mit den Tabletten heraus.
» Sie müssen sie regelmäßig nehmen«, hatte Doktor Flavius ihr eingeschärft. » Versprechen Sie mir das.«
Emilia hatte ihm den Gefallen getan. Sie versprach den Leuten das Blaue vom Himmel, wenn sie damit erreichte, dass man sie in Ruhe ließ. Aber natürlich vergaß sie die Tabletten immer wieder.
Sie bewahrte sie in ihrem Zimmer auf, weil sie nicht wollte, dass Hortense ihr dabei zusah, wie sie die Pillen schluckte. Man durfte Hortense keine Schwäche zeigen, nicht die allerkleinste, sonst war man verloren.
Langsam sank Emilia aufs Sofa, die Hand auf der Brust. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie durfte nur nicht an den Mann denken.
Denk an etwas anderes, befahl sie sich, und dachte an Ruben. Spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
Als Hortense zum Tee rief, schreckte sie aus ihrem Tagtraum auf. Seufzend erhob sie sich, strich sich den Rock glatt und verließ ihr Zimmer. So, dachte sie, kann das nicht weitergehen. Etwas muss geschehen. Gibt es denn keine Möglichkeit, diesen Mann von hier zu vertreiben?
Sie hätte sich gern mit Hortense beraten, wenn Hortense jemand gewesen wäre, zu dem man Vertrauen haben könnte. Doch das war sie leider nicht.
Der nach Weihnachtsgewürzen duftende Schokoladenkuchen tröstete sie ein wenig.
Und dass sie während des Tees kein Wort mit Hortense wechselte. Kein einziges Wort.
*
Der Vortrag über Neue Wege in der Rechtspsychologie fiel aus, weil die Gastdozentin kurzfristig erkrankt war. Als ich davon hörte, war ich enttäuscht. Ich hatte mehrere Arbeiten von Annet Meyerhof gelesen und mich darauf gefreut, sie live zu erleben. Sie hatte die seltene Begabung, die schwierigsten Themen so anschaulich und lebendig zu erörtern, dass man ihr mit Begeisterung folgte.
Die Studenten zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen, manche in Gruppen, manche zu zweit, manche allein. Ich gehörte noch nicht richtig dazu, hatte mich auch nicht darum bemüht. Ich war froh, wenn ich meinen Studienplan und unser Leben in der WG so auf die Reihe kriegte, dass keines von beiden zu kurz kam.
Nach dem Mittagessen hatten Luke und ich uns wieder getrennt. Er hatte an diesem Nachmittag noch zwei Seminare, und am Abend wollte er zu seinem Jiu-Jitsu-Training, das für ihn das Wichtigste auf der Welt zu sein schien.
Das lag an seiner Vergangenheit und gehörte zu ihm wie alles andere, was ich an ihm liebte. Auch wenn ich wer weiß was dafür gegeben hätte, mehr Zeit mit ihm verbringen zu dürfen.
Auf dem Weg zu meinem Wagen rief ich Merle an.
» Wann bist du hier?«, meldete sie sich.
» Woher weißt du denn, dass meine Veranstaltung ausfällt?«
» Nenn es das zweite Gesicht. Mike ist auch schon unterwegs.«
» Mike?«
» Er ist schon wieder auf der Rückfahrt. Irgendwas stimmt zwischen den beiden nicht. Er hat sich nicht gerade glücklich angehört.«
Die Schneeflocken wirbelten um mich herum. Eine blieb an meinen Wimpern hängen. Ich kniff die Augen zusammen.
» Es schneit wie verrückt«, sagte ich. » Keine Ahnung, wie es auf der Autobahn aussieht.«
» Pass auf dich auf«, bat Merle. » Geh bloß kein Risiko ein.«
Manchmal klang sie wie meine Mutter.
Mein Wagen war zu einem Iglu geworden, der in Reih und Glied mit anderen Iglus stand. Ich öffnete die Fahrertür und eine weiße Wolke rieselte auf den Sitz. Seufzend wischte ich ihn ab und war froh, die dicken Handschuhe angezogen zu haben.
Als Nächstes griff ich nach dem Eiskratzer und befreite Dach und Scheiben vom Schnee, danach Motorhaube, Kotflügel und Außenspiegel. Ich hatte keine Lust auf ein Knöllchen wegen Verkehrsbehinderung und die Polizei ließ bei so was nicht mit sich reden.
Was war zwischen Mike und Ilka passiert, dass Mike bei diesem Höllenwetter die Heimfahrt angetreten hatte, obwohl er gerade erst in Düsseldorf angekommen war?
Ich setzte rückwärts, scherte aus und verbot mir jeden weiteren Gedanken.
Unter dem Schnee lag blankes Eis, und ich
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