Der Bilderwächter (German Edition)
dem Warten auf verspätete Züge zu vergeuden. Das hatte sie schwindelerregende einhundertvierunddreißig Euro gekostet, doch sie bereute keinen einzigen.
Selten hatte sie eine solche Wut gehabt.
Der Fahrer hatte sie souverän durch Eis und Schnee chauffiert. Unbeeindruckt von der vorsichtigen Fahrweise der übrigen Verkehrsteilnehmer, war er auf der linken Spur geblieben und hatte mit Lichthupe verdrängt, was ihm im Weg gewesen war.
Am Fuß des Hügels, auf dem sich das Anwesen der Ritters befand, hatte Ilka sich absetzen lassen und war den Rest gelaufen. Für die Schönheit der Schneelandschaft hatte sie keinen Blick, keine Geduld und keine Zeit.
Sie hatte die Tür kaum erreicht, als sie sich von selbst öffnete.
Thorsten Uhland begrüßte sie mit einem Lächeln.
Aalglatt, dachte Ilka angewidert.
» Was soll das heißen, du kannst es nicht mehr stoppen?«, überfuhr sie ihn und übersah seine ausgestreckte Hand.
» Willst du nicht erst mal reinkommen?«
Ilka ignorierte die Überzieher, von denen mehrere Paar auf dem Boden standen. Sie zog ihre Jacke nicht aus und stellte auch die Tasche nicht ab, die sie über der Schulter trug. Immer noch getrieben von ihrem Zorn, betrat sie den Raum mit den Bildern und hinterließ auf dem Boden eine nasse Spur.
Diesmal würde sie sich besser im Griff haben, das hatte sie sich vorgenommen. Das Adrenalin, das ihren Körper bei dem kurzen Telefongespräch mit Thorsten überschwemmt hatte, schoss immer noch ungebremst durch ihre Blutbahn. Es würde ihr helfen, sich auf den Beinen zu halten.
» Ich bleibe bei dem, was ich dir am Telefon gesagt habe.« Ilka zwang sich dazu, langsam zu sprechen und die Stimme nicht zu erheben, obwohl sie Thorsten am liebsten angebrüllt hätte. » Ich kann noch keine Entscheidung treffen. Ich brauche Zeit.«
Er wies auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand, doch sie blieb stehen. Thorsten setzte sich auf den Schreibtischsessel und sah zu ihr auf. Er wirkte völlig entspannt, was Ilkas Wut noch mehr anfachte.
Nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte, eine Schlange, die noch abwägt, ob sie das Kaninchen am Stück verschlingen will oder in Einzelteilen, griff er lässig zu dem Express, der zuoberst auf einem Stapel von Zeitungen lag, und schob ihn ihr hin. Dabei ließ er sie keine Sekunde aus den Augen.
Schon bei dem leise schabenden Geräusch, das die Zeitung machte, als sie über den Schreibtisch glitt, wusste Ilka, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Und dann sprang ihr die Headline ins Auge:
RUBEN HELMBACH VON DEN TOTEN AUFERSTANDEN .
Ihr Herzschlag setzte aus und für einen Moment wurde es absolut still.
Dann kehrten die Geräusche zurück, und mit ihnen ein Sausen in den Ohren, von dem Ilka fast schlecht wurde.
Sie nahm die Zeitung und begann zu lesen.
Zwei Jahre nach dem dramatischen Tod des berühmten Malers Ruben Helmbach wird nun sein künstlerischer Nachlass eröffnet. Erbin seiner Werke ist die Schwester des Künstlers, Ilka Helmbach. Der Superstar der deutschen Kunstszene hatte sie vor zwei Jahren entführt und in einer alten Villa gefangen gehalten …
Die Zeilen verschwammen Ilka vor den Augen. Die Zeitung zitterte in ihrer Hand.
Sie warf sie auf den Schreibtisch, als hätte sie sich die Finger verbrannt.
Thorsten musterte sie ausgiebig. Er schien fasziniert.
Auch Ruben hatte Menschen manchmal so angeschaut, hatte sich vollgesogen mit ihrem Äußeren, ihren Worten, Gesten und Gefühlen, um später seine Beobachtungen auf die Leinwand fließen zu lassen.
» Wie du siehst«, sagte Thorsten, » gibt es kein Zurück mehr.«
Nun setzte Ilka sich doch. Sie lockerte den Schal. Die Luft war mit einem Mal stickig geworden.
» Warum hast du das getan?«, fragte sie.
» Was getan?«
Er würde leugnen oder die Sache verharmlosen.
Ilka antwortete nicht auf seine Frage. Sie sah zu den Bildern, und es war, als gehe Ruben leise durch den Raum.
Schwankend stand sie auf und wandte sich zur Tür. Es war zu spät, um zu reden und zu verhandeln. Zu spät für Argumente. Zu spät, um noch irgendwas gegen die Vermarktung der Bilder zu unternehmen.
Die Büchse der Pandora war geöffnet, und letztlich war es egal, wer sie aufgemacht hatte.
*
Mike war fix und fertig. Seit einer Stunde saß Claudio nun schon bei ihm in der Küche und redete mit Händen und Füßen auf ihn ein. Drei Tassen Kaffee hatten ihn nicht gerade beruhigt, im Gegenteil. Der Koffeinschub hatte seine Nerven vollends freigelegt.
Seit dem
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