Der Bilderwächter (German Edition)
Einsamkeit.
Es war vor allem der Ausdruck von Einsamkeit, der Mike fertigmachte.
Wozu waren sie zusammen, wenn nicht, um niemals wieder einsam zu sein?
Ihm war klar, dass Ilka ihm längst nicht alles erzählt hatte. Dass es Dinge gegeben hatte zwischen Ruben und ihr, die sie mit keinem Wort berührte.
Er hatte sich verboten, darüber nachzudenken.
Wollte es nicht wissen.
Oft schon hatte er sich vorgestellt, wie er reagieren würde, wenn Ilka ihm auch das Unaussprechliche anvertrauen würde. Es überstieg seine Vorstellungskraft.
In solchen Augenblicken hatte er das Bedürfnis, Ruben zusammenzuschlagen, und dass das nicht möglich war, empfand er als eine der schlimmsten Erfahrungen in seinem Leben.
Was war in der Zeit ihrer Gefangenschaft wirklich geschehen?
Warum sprach Ilka nie über ihre Kindheit?
Wieso nahm sie ihn nicht mit zu ihrer Mutter (deren Existenz sie ja lange verschwiegen hatte)?
Wie groß musste der Hass auf ihren toten Bruder sein, dass sie ihn sogar auf seine Bilder übertrug?
Was waren das für Geheimnisse, die sie ihrer Psychotherapeutin anvertraute?
So viele drängende Fragen.
» Woran denkst du?« Ilka berührte ihn sanft am Arm.
Wahrscheinlich würde sie schreiend davonlaufen, wenn er ihr gestattete, einen Blick in sein Innerstes zu tun. Sie durfte nichts von seinen Zweifeln erfahren.
» An nichts«, sagte er, zu der bequemen Lüge greifend, zu der sich viele Männer bei dieser Frage flüchteten.
» Man kann nicht an nichts denken«, widersprach sie da auch schon. » Wenn du an nichts denkst, dann denkst du ja schon – an nichts eben.«
Doch sie lächelte dabei, und dafür war Mike so dankbar, dass er sich gern auf das Geplänkel einließ.
*
Ab und zu besuchte Marten Vorlesungen in der Uni. Es half ihm, Abstand zu den Dingen zu gewinnen und eine neue Perspektive einzunehmen. So hatte er schon eine Vorlesungsreihe zum Thema Gartenkunstgeschichte gehört und eine zum Thema Italienische Reisen in der deutschen Literatur.
Für dieses Semester hatte er Liedermacher und Lyrik gewählt, und da er die Veranstaltungen freiwillig und ohne Druck besuchte, konnte er sie einfach genießen.
Heute jedoch machte er vor dem Hörsaal wieder kehrt und steuerte die Cafeteria an.
» Du Volltrottel«, schimpfte er leise, als er vor seinem Cappuccino saß. » Wie konntest du nur?«
Eine Studentin am Nebentisch starrte ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Er beugte sich zu ihr und machte: » Buh!«, worauf sie rasch wegsah. Blöde Kuh, dachte er und hätte ihr am liebsten eine reingezogen.
Er war so voller Aggressionen, dass es ihn selbst erschreckte.
Was war bloß in ihn gefahren?
Am Abend zuvor hatte die Sehnsucht nach Ilka ihn beinah umgebracht. Er hatte versucht, sie anzurufen, doch sie hatte ihr Handy ausgeschaltet. Schließlich hatte er ihr eine SMS geschickt, eine verklausulierte Liebeserklärung in Form eines Kleist-Zitats.
Sie hatte nicht darauf reagiert.
Marten hatte versucht zu malen. Er hatte in ein paar DVD s reingeschaut und jeden Film nach dem ersten Viertel abgebrochen, weil er keinen Zugang gefunden hatte.
Irgendwann war er in die Kneipe an der Ecke gegangen und hatte sich an den Tresen gestellt. Die Auswahl an Gesprächspartnern war nicht berauschend gewesen. Dennoch war er geblieben, weil die Vorstellung, in seine leere Wohnung zurückzukehren, noch unerträglicher gewesen war.
Und dann hatte er Susan angerufen.
Zuerst hatte er nur ihren Atem gehört.
» Du?«, hatte sie schließlich erstaunt gefragt.
» Ja. Ich«, hatte er lachend geantwortet.
Und Susan hatte gefragt: » Wie geht es dir?«
Dabei hatten sie sich doch gerade noch in der Kunstakademie gesehen.
» Hast du Zeit für mich?«, hatte er gefragt. » Jetzt?«
» Es ist schon kurz vor elf«, hatte sie geantwortet. » Ich wollte gerade ins Bett gehen.«
» Okay«, hatte er gesagt. » Vergiss es. War sowieso eine Schnapsidee.«
» Nein. Nein!« Sie hatte aufgeregt geklungen und auch ein wenig ängstlich. » Ich freu mich doch, dass du dich meldest.«
Und dann hatte sie gefragt, wo sie sich treffen wollten.
» Ich kann zu dir kommen«, hatte Marten vorgeschlagen. » Ich bringe was zu essen mit.«
Jetzt nur nicht allein sein, hatte er gedacht. Ohne einen Hintergedanken dabei zu haben. Außer einem vielleicht: Er hatte nicht gewollt, dass Susan zu ihm in die Wohnung kam.
Nicht, nachdem Ilka dort gewesen war.
Er hätte es wie eine Entweihung empfunden.
Das Wort war kaum in seinem Kopf
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