Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
die Serax, die er zuvor gesehen hatte.
Sofortiger Schlaf. Heute Nacht hatte sie die Tabletten versteckt.
Das Gefühl, dass etwas verkehrt war, setzte schleichend ein. Keine abrupte Verzerrung der Wahrnehmung, an die er sich so sehr gewöhnt hatte, sondern ein sanfterer Wahn, ein zunehmendes, statisches Knistern von Angst, das seine Sinne nacheinander infizierte und seinen Blick starr auf den Efeukranz rings um das Glas bannte. Zuerst kam ein ferner Geruch von verwesendem Fleisch, gefolgt von einem metallischen Geschmack und einem magnetischen Ziehen an seinen Fingerspitzen und schließlich einem Blitz aus Blut und Feuer draußen im Nieselregen.
Etwas Schreckliches , gurrte sein Gehirn. Das lauernd wartet …
Der gesamte Eindruck verflog ohne Aufhebens und ließ ihn – merkwürdigerweise – eher deprimiert als verstört zurück. Er war so sicher gewesen – oder hatte zumindest so sehr gehofft –, dass es mit den Wahnvorstellungen endgültig vorbei wäre. Dass die unheimliche und sonderbare Unterhaltung mit Glass an diesem Vormittag seine Psyche gereinigt und die Notwendigkeit von Narkotika ausgetrieben hätte …
Scheiße .
Zornerfüllt verlieh er der Leugnung seiner Wahrnehmungsstörungen Nachdruck und widerstand dem Drang, das Fenster zu überprüfen. Er blendete sein Bauchgefühl unmittelbar bevorstehender Gefahr aus. Trotzdem nagte es mit einer Beharrlichkeit an ihm, die sich nicht verdrängen ließ. Also griff er schließlich laut schnaubend zum Walkie-Talkie.
Nur eine Laune , redete er sich ein.
»Tal?«, funkte er. »Bist du da? Hier Shaper.«
Scheiß drauf, »Over« zu sagen.
»Ja. Hier unten tut sich so wenig wie im Höschen einer Nonne, Kumpel. Und diese Sandra kann ums Verrecken keinen Kaffee kochen.«
»Halt einfach weiter die Augen offen, ja?«
»Roger.«
Shaper legte das Funkgerät beiseite und sank zurück auf den Hocker.
Und dann spielten seine Sinne verrückt.
Diesmal schneller und heftiger, als wollten sie ihn dafür bestrafen, dass er zuvor nicht reagiert hatte. Vor seinen Augen tobte ein perfekter Sturm aus glühenden Funken und Silber, der rasch von einem blutroten Schleier verschlungen wurde. Der Anblick verdichtete sich zu einer albtraumhaften Wolke um die Ränder der Efeuranken, begleitet vom Gestank nach Safran und Eisen, dem Geheul einer Sitar, dem Trommeln einer Tabla und …
Ein Rascheln. Feucht und verstohlen.
Eine Schlange, die sich durch Blätter windet …
Ein Ruck durchlief seinen gesamten Körper. Seine Hüften hievten ihn vom Hocker hoch, obwohl die Knie einknickten und ihn direkt auf dem Teppich landen ließen. Er wartete darauf, dass der visuelle Ansturm endete, und wagte nicht, seiner Enttäuschung über die Rückkehr der Wahnvorstellungen nachzugeben. Shaper ließ den Anfall ausklingen wie einen verblassenden Neutronenstern. Sein Blick verharrte dabei ständig auf den Zweigen jenseits des Fensters, die den Takt zu dem Sturm der Eindrücke klopften.Sobald ihn seine Beine trugen, sprang er auf und pikte Vince in den Rücken.
»Kumpel.«
»Hm?«
»Das Fenster.«
»Was ist damit?«
Seine Stimme fühlte sich fremdartig im Mund an. »B-bewegt sich da was im Efeu, Mann?«
Benommen und träge setzte sich Vince auf und schleppte sich auf die Glasscheibe zu. Shaper schloss sich ihm vorsichtig an und ärgerte sich über die eigene Zögerlichkeit. Zusammen spähten sie hinunter.
Und tatsächlich, einige Meter tiefer wogte der Efeu. Allerdings handelte es sich um eine so subtile Bewegung – eine leichte Peristaltik –, dass Shaper unmöglich beurteilen konnte, ob sie durch etwas darunter, durch eine schwarze, unter der grünen Decke verborgene Made verursacht wurde oder ob sie von der Kraft des Windes ausgelöst worden war. »Kann keine Person sein«, sagte er zu Vince und lechzte nach Zustimmung. »Tal hätte sie gesehen.«
Vince legte den Kopf schief. »Ja. Ich meine, außer …«
»Was?«
»Na ja … Außer der Scheißer wartet schon den ganzen Abend dort unten.«
Shaper starrte ihn an. »Ich hasse dich«, sagte er.
Vince grinste humorlos.
Wie auf ein stummes Signal hin machten sie sich an die Arbeit. Vince ergriff die Flinte, öffnete das Fenster behutsam etwas weiter und bedeutete Shaper vorzurücken.
Oh Gott …
Er beugte sich hinaus.
Die Kälte schlug ihm einen Sekundenbruchteil vor dem Regen ins Gesicht. Einen schwindelerregenden Moment lang hielt er den Atem an. Vor ihm ging es steil nach unten, faserig vor Grünzeug. Er
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