Der blaue Express
energischen Rappeln am Klopfer. Eine Minute später öffnete das kleine Dienstmädchen die Tür und meldete beinahe atemlos:
«Dr. Harrison.»
Der mittelalte, große Arzt stürmte mit Energie und Schwung herein, wie seine Attacke auf den Türklopfer es angekündigt hatte.
«Guten Morgen, Miss Grey.»
«Guten Morgen, Dr. Harrison.»
«Ich komme so früh vorbei», begann der Doktor, «für den Fall, dass Sie von einer dieser Harfield-Kusinen gehört haben. Mrs Samuel, so nennt sie sich – eine reichlich giftige Person.»
Ohne ein Wort reichte Katherine dem Arzt Mrs Harfields Brief. Mit einiger Erheiterung beobachtete sie ihn bei der Lektüre: die zusammengekniffenen buschigen Brauen, das Schnauben und Knurren heftiger Missbilligung. Er knallte den Brief auf den Tisch.
«Absolut monströs», fauchte er. «Lassen Sie sich davon nicht ins Bockshorn jagen, meine Liebe. Die reden wild drauflos. Die alte Mrs Harfield war genauso bei Verstand wie Sie und ich, und es wird sich keiner finden, der das Gegenteil behauptet. Die haben nichts, worauf sie setzen können, und die wissen das. All das Gerede von Gerichtsverfahren ist der reine Bluff. Deshalb dieser Versuch, Sie hintenrum reinzulegen. Hören Sie, meine Liebe, lassen Sie sich von denen nicht einseifen. Und glauben Sie bloß nicht, es wäre Ihre Pflicht, denen das Geld auszuhändigen, oder sonst was, weil Sie Skrupel haben.»
«Ich fürchte, es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, deswegen Skrupel zu haben», sagte Katherine. «All diese Leute sind entfernte Verwandte von Mrs Harfields Mann, und die sind nie hergekommen und haben sich nicht um sie gekümmert, als sie noch lebte.»
«Sie sind eine vernünftige Frau», sagte der Arzt. «Ich weiß besser als sonst einer, dass Sie es die letzten zehn Jahre nicht leicht gehabt haben. Was immer die alte Dame zurückgelegt hat, steht Ihnen vollkommen zu.»
Katherine lächelte nachdenklich.
«Was immer sie zurückgelegt hat», wiederholte sie. «Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, um welche Summe es geht?»
«Na ja – so um die fünfhundert pro Jahr, nehme ich an.»
Katherine nickte.
«Das hatte ich auch gedacht», sagte sie. «Jetzt lesen Sie mal das hier.»
Sie reichte ihm den Brief, den sie dem langen blauen Umschlag entnommen hatte. Der Doktor las ihn und stieß einen Ruf höchsten Erstaunens aus.
«Unmöglich», murmelte er, «unmöglich.»
«Sie war einer der ersten Aktionäre von Mortaulds. Vor vierzig Jahren muss sie ein Einkommen von acht- oder zehntausend Pfund im Jahr gehabt haben. Ich bin ganz sicher, dass sie nie mehr als vierhundert im Jahr ausgegeben hat. Mit Geld ist sie immer sehr vorsichtig umgegangen. Ich habe immer gedacht, sie müsste jeden Penny dreimal umdrehen.»
«Und die Zeit hat das Vermögen durch Zins und Zinseszins vermehrt. Meine Liebe, Sie werden eine sehr reiche Frau.»
Katherine Grey nickte.
«Ja», sagte sie, «das werde ich.»
Sie sprach distanziert, fast unpersönlich, als betrachte sie die Lage von außen.
«Also», sagte der Arzt, der sich anschickte aufzubrechen, «meine herzlichsten Glückwünsche.» Er schnipste mit dem Daumen an Mrs Samuel Harfields Brief. «Kümmern Sie sich nicht um diese Frau und ihren scheußlichen Brief.»
«Der Brief ist gar nicht so scheußlich», sagte Miss Grey tolerant. «Unter den Umständen finde ich das eigentlich ganz natürlich.»
«Manchmal machen Sie mich ganz misstrauisch», sagte der Arzt.
«Warum?»
«Was Sie alles ganz natürlich finden.»
Katherine Grey lachte.
Beim Mittagessen erzählte Dr. Harrison seiner Frau die große Neuigkeit. Sie war ganz aufgeregt darüber.
«Man stelle sich das vor – Mrs Harfield mit all dem Geld. Ich freue mich, dass sie es Katherine Grey hinterlassen hat. Das Mädchen ist eine Heilige.»
Der Doktor schnitt eine kleine Grimasse.
«Den Umgang mit Heiligen habe ich mir immer ziemlich schwierig vorgestellt. Katherine Grey ist zu menschlich für eine Heilige.»
«Sie ist eine Heilige mit Sinn für Humor», sagte die Frau des Arztes zwinkernd. «Und ich nehme zwar an, dass du es nie bemerkt hast, aber sie sieht auch sehr gut aus.»
«Katherine Grey?» Der Arzt war ehrlich überrascht. «Sie hat ganz hübsche Augen, ich weiß.»
«O ihr Männer!», rief seine Frau. «Blind wie die Maulwürfe. Katherine hat alles, was zu einer richtigen Schönheit gehört. Alles, was ihr fehlt, sind Kleider.»
«Kleider? Was stimmt denn nicht mit ihren Kleidern? Ich finde, sie sieht immer ganz nett
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