Der blaue Express
aus.»
Mrs Harrison stieß einen entrüsteten Seufzer aus, und der Arzt stand auf, um seine Patientenbesuche zu machen.
«Du könntest mal bei ihr reinschauen, Polly», schlug er vor.
«Das werde ich tun», sagte Mrs Harrison prompt.
Sie machte ihren Besuch um drei Uhr nachmittags.
«Meine Liebe, ich freue mich ja so», sagte sie warm, als sie Katherines Hand drückte. «Und alle anderen im Dorf werden sich auch freuen.»
«Es ist sehr nett von Ihnen, vorbeizuschauen und mir das zu sagen», sagte Katherine. «Ich hatte gehofft, dass Sie vorbeikommen würden, weil ich nach Johnnie fragen wollte.»
«Oh! Johnnie. Tja…»
Johnnie war Mrs Harrisons jüngster Sohn. Sekunden später stürzte sie sich in eine lange Erzählung, in der es vor allem um Johnnies Lymphdrüsen und Mandeln ging. Katherine hörte verständnisvoll zu. Alte Gewohnheiten wird man nicht so schnell los. Zuhören war zehn Jahre lang ihre Hauptaufgabe gewesen. «Meine Liebe, habe ich Ihnen eigentlich je von dem Flottenball in Portsmouth erzählt? Als Lord Charles mein Kleid bewundert hat?» Und gefasst und freundlich antwortete Katherine dann: «Ich glaube fast, ja, Mrs Harfield, aber ich habe das ganz vergessen. Möchten Sie es mir nicht noch einmal erzählen?» Und dann hatte die alte Dame immer losgelegt, mit zahlreichen Ausschmückungen und Pausen und Einzelheiten, an die sie sich erinnerte. Und Katherine lauschte mit halbem Ohr und sagte mechanisch die richtigen Dinge, wenn die alte Dame innehielt.
Mit ebendiesem merkwürdigen Gefühl, zweigeteilt zu sein, an das sie gewöhnt war, lauschte sie nun Mrs Harrison.
Nach einer halben Stunde rief Letztere sich plötzlich zur Ordnung.
«Jetzt rede ich die ganze Zeit von mir», rief sie. «Dabei bin ich hergekommen, um über Sie und Ihre Pläne zu sprechen.»
«Ich glaube, eigentlich habe ich noch gar keine.»
«Meine Liebe – Sie wollen doch wohl nicht hier bleiben?»
Katherine lächelte über das Entsetzen im Tonfall der anderen.
«Nein, ich glaube, ich möchte gern reisen. Ich habe nie viel von der Welt gesehen, wissen Sie.»
«Das kann ich mir denken. Es war bestimmt ein schlimmes Dasein für Sie, all die Jahre hier eingesperrt gewesen zu sein.»
«Ich weiß nicht», sagte Katherine. «Es hat mir viel Freiheit gegeben.»
Sie hörte die anderen ächzen und wurde ein wenig rot.
«Das klingt wohl ziemlich verrückt – so etwas zu sagen. Natürlich hatte ich nicht viel Freiheit im engen physischen Sinn…»
«Das will ich wohl meinen», sagte Mrs Harrison. Sie dachte daran, dass Katherine selten einen freien Tag zur Verfügung gehabt hatte.
«Aber irgendwie gibt physische Erschöpfung einem viel geistigen Raum. Man kann immer denken. Ich hatte immer so ein herrliches Gefühl von geistiger Freiheit.»
Mrs Harrison schüttelte den Kopf.
«Das kann ich nicht verstehen.»
«Ach, das könnten Sie aber, wenn Sie an meiner Stelle wären. Aber trotz alledem habe ich das Gefühl, ich hätte gern eine Veränderung. Ich möchte – tja, ich möchte, dass etwas geschieht. O nein, nicht mit mir – das meine ich nicht. Aber ich möchte irgendwo sein, wo etwas geschieht – aufregende Dinge –, auch wenn ich nur Zuschauer bin. Sie wissen doch, hier in St. Mary Mead passiert nie etwas.»
«Da haben Sie Recht», sagte Mrs Harrison mit Nachdruck.
«Zuerst fahre ich nach London», sagte Katherine. «Ich muss ohnehin mit den Anwälten sprechen. Danach geht es wahrscheinlich ins Ausland.»
«Sehr schön.»
«Aber vorher, natürlich…»
«Ja?»
«… brauche ich etwas zum Anziehen.»
«Genau das habe ich Arthur heute Morgen gesagt», rief die Frau des Arztes. «Wissen Sie, Katherine, dass Sie richtig schön sein könnten, wenn Sie sich etwas Mühe geben würden?»
Miss Grey lachte ungekünstelt.
«Ach, eine Schönheit wird man wohl nicht aus mir machen können», sagte sie offen. «Aber natürlich freue ich mich darauf, ein paar wirklich gute Sachen zu haben. Ich fürchte, ich rede furchtbar viel über mich.»
Mrs Harrison sah sie durchdringend an.
«Das muss allerdings eine ganz neue Erfahrung für Sie sein», sagte sie trocken.
Ehe sie das Dorf verließ, machte Katherine einen Abschiedsbesuch bei der alten Miss Viner. Sie war zwei Jahre älter als Mrs Harfield, und vor allem mit dem Erfolg befasst, ihre Freundin überlebt zu haben.
«Hätten Sie nicht gedacht, dass ich länger durchhalte als Jane Harfield, oder?», sagte sie triumphierend. «Wir waren zusammen in der Schule, sie und
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