Der blaue Tod
jeder Tür hörte man Menschen in Krämpfen würgen, schreien und stöhnen, manchmal war nur noch leises Wimmern zu vernehmen.
Der Portier zuckte nur mit den Schultern. Da Sören den Namen der verunglückten Beiersdorf-Arbeiterin nicht kannte, verwies er ihn an die chirurgische Abteilung. Die Patienten, Pfleger und Schwestern, denen Sören auf dem Weg zu den chirurgischen Pavillons begegnete, trugen alle den gleichen Gesichtsausdruck hilfloser Erschöpfung, und auch Sören überkam ein Gefühl der Ohnmacht. Jeder, den er hier sah, tat sein Bestes, gab alles Menschenmögliche, um die Katastrophe zu verhindern, und die Verantwortlichen schlossen die Augen. Es war ein Albtraum. Er beschloss, zuerst die Baracke aufzusuchen, in der er letztens mit Dr. Rumpf gesprochen hatte.
Dr. Rumpf war außer sich. Er stand mit drei Kollegen um einen schmalen Labortisch versammelt und schlug mit der Faust auf die Tischplatte, dass die schmalen Reagenzgläser in den hölzernen Ständern bedrohlich klirrten. «Es ist unerhört! Unerhört!», rief er und schlug noch einmal auf den Tisch. Dann bemerkte er Sören. «Bitte?»
«Dr. Bischop. Sie erinnern sich vielleicht?»
«Sicher erinnere ich mich», antwortete Rumpf. Seine Stimme zitterte immer noch vor Zorn. Er rang sich ein Lächeln ab. «Entschuldigen Sie, wenn ich mich hier wie ein Irrer aufführe, aber es ist schier zum Verzweifeln.»
«Angesichts der Szenen, die ich draußen gesehen habe, kann ich Sie gut verstehen», entgegnete Sören. «Immer noch keine Reaktion vonseiten des Senats?», fragte er vorsichtig.
«Fehlanzeige!», schnarrte Dr. Rumpf höhnisch. «Und das, obwohl wir …» Er deutete auf einen der Männer neben sich. «Obwohl mein Kollege Fraenkel hier den Erreger heute Nacht isolieren konnte. Nun besteht kein Zweifel mehr, dass es sich um die asiatische Cholera handelt. Und wissen Sie, was Kraus sagt?» Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch. «Wir sollen uns noch ein wenig gedulden! Gedulden! Dass ich nicht lache! Wir hatten heute 340 Einlieferungen! 340 Einlieferungen an einem Tag! Und es werden mehr werden, das kann ich Ihnen prophezeien! Aber ich werde heute Berlin informieren! Auch auf die Gefahr hin, dass ich danach entlassen werde. Ich kann es nicht mehr verantworten.»
«Was sagt denn Medicinalrat Kraus genau?», fragte Sören.
«Er druckst weiter herum, er hätte Anweisungen von den Senatoren von Wesselhöft und Hachmann, nichts zu melden, was nicht verlässlich sei. Dabei haben wir den Erreger eindeutig identifiziert!»
Sören verkniff es sich, den Tod von Senator von Wesselhöft zu erwähnen. «Sie wollen es also nach Berlin melden?»
«Ich warte jetzt nur noch auf den Rückruf von Robert Koch aus Berlin. Ich werde ihm schildern, was uns vorliegt, mich kurz mit ihm absprechen und dann die entsprechenden Behörden verständigen. Es bleibt mir nichts anderes übrig.» Auf einmal blickte er Sören an, als würde er ihn jetzt erst richtig wahrnehmen. «Was führt Sie eigentlich hierher?»
Dr. Müller, einer der Ärzte, die bei Rumpf gestanden hatten, begleitete Sören zum entsprechenden Krankenpavillon. Er müsse so oder so nach dem Rechten sehen, hatte er sich bei Rumpf entschuldigt, aber Sören hatte viel mehr den Eindruck, als wenn dem Mediziner jede Gelegenheit recht gewesen wäre, das Labor so schnell wie möglich zu verlassen. Die Stimmung unter den Ärzten war natürlich gereizt.
«Ein komplizierter Bruch der Speiche sowie mehrerer Handwurzelknochen», erklärte er auf Sörens Nachfrage. «Mit ein wenig Glück kann sie aber in sechs bis acht Wochen alles wieder bewegen.» Er erinnerte sich auch sofort an die rothaarige Begleiterin der Patientin, die wahrscheinlich immer noch bei ihr sei.
Altena Weissgerber blickte überrascht auf, als Sören zusammen mit Dr. Müller den Pavillon betrat. «Wollen Sie etwa zu mir?»
Sören nickte. «Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.»
Erst als Sören andeutete, es gehe um Marten Steen, erklärte sich Altena Weissgerber bereit, ihre Kollegin im Krankenhaus allein zu lassen. Sie fühlte sich mitschuldig am Arbeitsunfall, weil sie es gewesen war, die die Maschine versehentlich zu früh angeschaltet hatte. Aber die Sorge um ihren Verlobten überwog ihr schlechtes Gewissen darüber deutlich. Sie saß auf dem Wagen und starrte vor sich ins Leere, während Sören vorsichtig zur Sprache brachte, was er bisher hatte herausfinden können. Dass er auch auf Altenas ehemalige
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