Der blaue Tod
Arbeitsstelle in St. Georg zu sprechen kam, ließ sich nicht vermeiden.
«Woher wissen Sie davon?» Sie blickte ihn ängstlich an.
«Das ist nebensächlich», sagte Sören und bremste denWagen auf Schrittgeschwindigkeit. «Aber Sie hätten mir sagen sollen, dass Sie Ilse Mader von früher her kannten.»
Stück für Stück erzählte Altena Weissgerber daraufhin von ihrer Vergangenheit, und Sören hatte den Eindruck, dass es ihr nicht einmal schwer fiel. Ganz im Gegenteil: Es klang fast so, als ob sie Erleichterung empfände, darüber sprechen zu können. Je mehr sie berichtete, desto flüssiger sprudelten die Worte aus ihr heraus.
Das Erste, woran sie sich erinnern konnte, war der kleine Garten hinter dem alten Haus in Hamm, wo sie zusammen mit fünf anderen Mädchen gewohnt hatte. Da war sie etwa acht Jahre alt gewesen. Ihr genaues Geburtsjahr kannte sie nicht. Dass Inge Bartels nicht ihre wahre Mutter war, hatte sie erst begriffen, nachdem sie eines der älteren Mädchen, von denen sie bislang angenommen hatte, es wären ihre Schwestern, aufgeklärt hatte. Die kleineren mussten nachts immer alleine sein, da die Bartels mit den älteren Mädchen jeden Abend das Haus verließ, um zu arbeiten. Als Altena etwa zwölf Jahre alt war, hatte Inge Bartels auch sie mitgenommen. Sie müsse bald für sich selbst sorgen können, hatte die Bartels ihr erklärt, und als Frau wäre es die leichteste Arbeit, einfach den Männern gefällig zu sein und die Beine breit zu machen. Sören erschrak über die schonungslosen und derben Worte, mit denen Altena Weissgerber über ihre Vergangenheit sprach, schließlich war er nicht unbedingt ein Vertrauter von ihr. Aber im Grunde hatte sie natürlich Recht, wenn sie die Sachen beim Namen nannte.
Anfangs hatte sie alles widerspruchslos über sich ergehen lassen, erzählte Altena weiter, schließlich hatten ihr alle gesagt, das sei die natürlichste Sache der Welt.Also hatte sie den Ekel hinuntergeschluckt und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Aber als sie älter wurde und die Männer nicht mehr so freundlich und zuvorkommend zu ihr waren, man von ihr andere Sachen verlangte, hatte sich ihr Widerwille immer stärker ausgebreitet. Vor vier Jahren war sie einfach davongelaufen. Erst hatte sie sich versteckt, von der Hand in den Mund gelebt und auf den Straßen gebettelt, dann hatte sie eine Straßenbekanntschaft mit nach Geesthacht genommen, wo sie schließlich in einer Pulverfabrik Arbeit gefunden hatte. Erst ab diesem Zeitpunkt habe sie eigentlich begriffen, dass es für eine Frau auch andere Möglichkeiten gab, Geld zu verdienen. Sie änderte ihren Namen von Gerber in Weissgerber und kehrte nach einem Jahr in die Stadt zurück, immer darauf bedacht, einen großen Bogen um ihre ehemalige Arbeitsstätte zu machen. An der Kaffeeklappe am Hafen, wo sie abends arbeitete, hatte sie schließlich Marten Steen kennen gelernt. Er war anders als die Männer in ihrem bisherigen Leben. Marten Steen war höflich und freundlich, und er war unerfahren, was die Liebe betraf. Genau wie sie selbst, wie sie sich eingestehen musste, denn was sie zusammen mit den anderen Mädchen und Frauen in besagtem Etablissement getan hatte, hatte mit Liebe nichts zu tun. Aber das wurde ihr natürlich erst jetzt bewusst. Marten Steen sei es auch gewesen, erzählte sie schließlich, der sie zu den Sozialdemokraten gebracht habe. Seit sie die Arbeit bei Beiersdorf habe, sei sie zudem Gewerkschaftsmitglied und kämpfe aktiv um die Rechte der Frauen am Arbeitsplatz.
«Und der Name Mader hat Sie nicht zusammenzucken lassen?», fragte Sören. «Oder kannten Sie Ilse Mader nur unter ihrem … ihrem Künstlernamen?»
«Doch. Als ich den Namen des ermordeten Schankwirtes erfuhr, ahnte ich schon so etwas. Zuerst glaubte ich, man sei hinter mir her … Aber so scheint es gar nicht zu sein. Wieso Marten?»
«Das frage ich mich auch die ganze Zeit.» Sören lenkte den Wagen von der Oderfelder Straße auf den großen Kreisel des Klostersterns und bog in die Eppendorfer Chaussee in Richtung Rotherbaum ein.
«Wohin fahren wir eigentlich?», fragte Altena Weissgerber.
«An einen sicheren Ort», antwortete Sören und blickte sie ernst an. «Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, wer Ihre Eltern sind?» Er hatte nicht wirklich vor, Altena Weissgerber in diesem Moment über ihre Herkunft aufzuklären – das würde er bei anderer Gelegenheit nachholen, aber er musste ihr zumindest erklärlich machen, dass sie in Gefahr
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