Der bleiche König: Roman (German Edition)
sich die Zigarette an, die sie zwischen den Fingern gehalten und betrachtet hat. »Nur damit du dir ein Bild machen kannst.«
Drinion trinkt sein Michelob aus und tupft sich den Mund mit der Serviette ab, auf der das Glas gestanden hat. Dann stellt er Serviette und Glas wieder ab. Sein Bier hatte schon viel zu lange Zimmertemperatur, um noch neues Kondenswasser zu bilden.
»Und es stimmt, dass er schon krank aussah, als ich ihn kennenlernte. Nichts Krasses, er eiterte nicht oder hustete ständig oder so, aber er war blass, sogar für den Winter auffällig blass. Er sah zerbrechlich aus, wie ein alter Mann. Und er war auch spindeldürr, obwohl man neben den Anorektikerinnen natürlich nicht sofort sah, wie dürr er war – es war mehr, dass er so blass war und schnell müde wurde; er konnte sich nicht so schnell bewegen. Und hatte fürchterliche dunkle Ringe unter den Augen. Manchmal sah er müde oder verschlafen aus, aber das konnte auch am späten Abend liegen, weil er Stationspfleger der zweiten Schicht war, von fünf bis Mitternacht, wenn der Typ von der Nachtschicht kam, den wir nie richtig zu Gesicht bekamen oder nur zum Frühstück oder wenn jemand mitten in der Nacht ausgerastet ist.«
»Dann war er also kein Arzt«, sagt Drinion.
»Die Ärzte waren ein Witz. Im Zeller. Die Psychiater. Die kamen am Nachmittag vielleicht für eine Stunde, im Anzug – die trugen immer einen schicken Anzug; das waren Experten –, und sprachen dann meistens mehr mit den Krankenschwestern und den Eltern. Und wenn sie dann endlich zur Visite kamen, wurde das ein total steifes Gespräch, als wären sie dein Dad oder so. Und sie hatten null Sinn für Humor und sahen die ganze Zeit auf die Uhr. Selbst die, die man noch so halbwegs für menschliche Wesen halten konnte, interessierten sich vor allem für deine Fallgeschichte, aber nicht für dich. Dafür, was dein Fall zu bedeuten haben konnte, ob er den Fällen in den Handbüchern entsprach oder anders war. Hör mir bloß auf mit dem Ärztebetrieb auf Psychiatriestationen. Die waren grotesk im Umgang; pfuschten dir richtig im Schädel rum. Wenn du da gesagt hast, dass du die Geschlossene hasst und dass die nichts hilft und dass du rauswillst, war das für die nur ein Symptom und nicht der Ausdruck, dass du rauswillst. Für die warst du kein menschliches Wesen, sondern ein Gerät, das sie auseinandernehmen konnten, um zu sehen, wie es funktioniert.« Sie lässt ihr Zigarettenetui auf- und zuschnappen. »Es war sogar richtig unheimlich, sie konnten nämlich schriftlich verfügen, dich dazubehalten oder auf eine schlimmere Station zu verlegen, die andere geschlossene Station war noch viel schlimmer; was man sich darüber erzählt hat, das willst du gar nicht wissen. Oder sie konnten dir Medikamente verschreiben, die aus manchen Mädchen echt so Zombies gemacht haben; die waren quasi am einen Tag da, und am nächsten Morgen stand das Oberstübchen leer. Zombies in echt schönen, von zu Hause mitgebrachten Bademänteln. Es war einfach unheimlich.«
»...«
»Nur das Zeug wie in den Horrorfilmen konnten sie nicht mit dir durchziehen, also Elektroschockbehandlungen wie in diesem einen Film, weil praktisch jeden Tag die ganzen Eltern da waren und wussten, was los war. Wenn du auf der Station warst, warst du nicht ins Zeller eingewiesen , du warst nur überwiesen , und nach einer Woche mussten sie dich sowieso gehen lassen, wenn deine Eltern das wollten. Was die von ein paar Zombiemädchen auch gemacht haben. Sie konnten aber rechtskräftig verfügen, dass du eingewiesen wurdest. Die Ärzte in den Anzügen konnten das, von daher waren die die schlimmsten.«
»...«
»Und das Essen war einfach unterirdisch.«
»Du hast dir als eine Art psychologische Kompensation kleine unsichtbare Ritzer zugefügt«, sagt Shane Drinion.
Meredith Rand sieht ihn mit festem Blick an. Sie merkt, dass er anscheinend etwas aufrechter dasitzt oder so, denn die unterste Reihe der Hutausstellung ist nicht mehr zu sehen, und sie weiß, dass sie nicht zusammengesunken dasitzt. »Es fühlte sich gut an. Es war unheimlich, und ich weiß, dass es nicht gut sein konnte, wenn ich so geheimnisvoll und unheimlich damit umging, aber es fühlte sich gut an. Anders kann ich das nicht beschreiben.« Wenn sie abascht, tippt ihr Finger mit dem rot lackierten Nagel jedes Mal dreimal im selben Tempo und Winkel auf die Zigarette. »Aber ich habe fantasiert, mich am Hals zu ritzen, im Gesicht, was unheimlich war, und ich war im
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