Der bleiche König: Roman (German Edition)
zu sehen und im Nachbargebäude für die höheren Chargen jemanden am Fenster des Rechenzentrums stehen zu sehen. Mit dicken Brillengläsern. Ihre Blicke begegnen sich, aber sie treffen sich nie und sprechen nie miteinander.
Hellblauer Pacer mit Fischaufkleber an der Stoßstange. Das ist Lane Deans Wagen – der morgens immer wahnsinnig in Eile ist, weil er (bzw. seine Frau Sheri) immer schon in aller Herrgottsfrühe in die Kirche muss und der sich deswegen immer zu verspäten droht (Dean ist kein ganz so inbrünstiger Christ mehr, seit er im RPZ angefangen hat, Sheri ist dafür umso frommer geworden) –, der sich dieses Manöver praktisch jeden Morgen leistet.
§ 26: Stecyk weiß von Blumquist. Er war im RPZ, als Blumquist starb. Er hatte gerade die IRS-Akademie in Columbus abgeschlossen und arbeitete als Truppführer in der Standardprüfabteilung. Er musste die Schlängler (wurden die 1978 schon so genannt?) vernehmen, die rund drei Tage lang zur Arbeit gekommen waren und neben dem tot an seinem Schreibtisch sitzenden Blumquist gearbeitet hatten. Teilweise hatten sie deswegen Schuldgefühle. Ein paar beantragten Versetzungen. Stecyk entdeckt, dass der Revisionsumsatz der Prüfer unterm Strich jeden Monat steigt, wenn Blumquist bei ihnen sitzt, gar nicht redet oder sie anderweitig ablenkt, sondern einfach nur dasitzt, bei ihnen ist. Er sinniert, ob doppelte Prüferteams die Kosten wert sein könnten – die verdoppelten Lohnkosten könnten vom insgesamt realisierten Revisionsumsatz noch übertroffen werden. Aber wie verkauft man diese Idee? Der Regionale Personalchef könnte fragen, wie das ursprünglich ans Licht gekommen sei ... soll sich Stecyk vielleicht auf einen Geist beziehen? Vielleicht war es aber auch die Idee eines früheren Stellvertretenden Personalchefs, der Schwierigkeiten bekam, weil man in der Regionalzentrale argwöhnte, er hätte schon mit zwei echten Prüfern experimentiert, also zwei Gehälter gebraucht. Ist das ein plausibler Handlungsstrang?
Wie ist Stecyk jetzt als Erwachsener? Immer noch unglaublich nett, aber nicht mehr so ein absoluter Streber? Ein bisschen trauriger? Verbreitet er küchenpsychologische Binsenweisheiten? Was hat ihn einsehen lassen, dass die Nettigkeit seiner Kindheit in Wahrheit sadistisch, pathologisch und selbstsüchtig war? Dass auch andere Menschen nett sein und Gefallen tun wollen und dass seine Großzügigkeit ungeheuer selbstsüchtig war? Hat er beim Unisport die andere Mannschaft aus »Nettigkeit« gewinnen lassen, und hat ihn dann der Schiedsrichter – ganz in Schwarz-Weiß gekleidet wie Chris Fogles Jesuit an der Uni – beiseitegenommen und ihn vergattert, er würde ja nur Scheiße labern, und wahrer Anstand wäre etwas ganz anderes als pathologischer Großmut, weil dieser nicht auf die Gefühle derer achte, die dem Großmut unterworfen würden? Hat Stecyk Verkehrsstaus verursacht, weil er an Kreuzungen ohne Vorfahrtsstraße immer erst alle anderen vorgelassen hat? Oder der Schiedsrichter verschafft Stecyk die magische Einsicht, wie sich seine Mutter fühlte, als er jeden Morgen zu nachtschlafender Zeit aufstand und ihre Hausarbeit erledigte – als wäre sie nutzlos, als hielte die Familie sie für unfähig usw. Stecyk erzählt David Wallace die Geschichte vom Schmetterling – wenn man den aus dem Kokon befreit, in dem er zappelt und zu sterben scheint, dann werden seine Flügel nicht stark genug, und er kann nicht überleben.
Die pathologisch Netten bilden den einen Grundtyp, der zum IRS gravitiert, weil es so ein trostloser, unbeliebter Job ist – keiner dankt es einem, was das Gefühl der Aufopferung nur intensiviert.
Sylvanshine hat eine andere Sicht auf Blumquist. Sylvanshine ist zu dem Schluss gelangt, dass zu den besten – aufmerksamsten, gründlichsten – Prüfern die mit einem Trauma oder einer Deprivation in der Lebensgeschichte gehören. Er soll mit seiner Intuitionsgabe herausfinden, welche die besten sind, die dann auf ihre Eignung für den Wettkampf gegen den ANA/DA getestet werden. Wie sich herausstellt, hatte Blumquist brutal fundamentalistische Eltern – solche, die Ventilatoren und Matratzen für Luxus halten. Die hatten eine spezielle Strafe: Er musste in der guten Stube stundenlang in der Ecke – der nackten Ecke – stehen. Das war die traumatische Erfahrung. Hinter ihm hatte es einen Spiegel gegeben; er hatte nur seinen Rücken gezeigt. Das ist das Bild, das Sylvanshine für Blumquist heraufbeschwören kann: den Anblick
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