Der blinde Passagier
Frau Bergström und Peter.
„Also denn“, sagte die Dänin, die wieder ihren bunten Federhut auf dem Kopf hatte. „Schlaf gut, mein Junge!“
„Gute Nacht, Frau Bergström“, erwiderte Peter und machte den Ansatz zu einer leichten Verbeugung.
Frau Bergström war schon halb in ihrem Zimmer verschwunden, da drehte sie sich noch einmal um. „Wir sollten uns überlegen, wie du mich anredest. Wenn ich nun schon deine Frau Mutter spielen soll, kannst du eigentlich nicht immer ,Frau Bergström’ zu mir sagen. Und wir können jetzt nicht mehr zurück. Der Captain würde uns das übelnehmen. Man nimmt einen Mann, der zwei Meterlang ist, nicht ungestraft auf den Arm.“
„Ich sage auch zu meiner Mutter meistens nur ,Frau Schimmelpfennig’ 1 . Sie hat das ganz gern, und wir haben uns daran gewöhnt.“ Peter grinste verlegen. „Allerdings sage ich dieses ,Frau Schimmelpfennig’ nicht wie zum Beispiel der Postbote oder der Mann vom Elektrizitätswerk.“
„Ich sehe dem morgigen Tag mit Spannung entgegen.“ Frau Bergström lachte und verschwand nun endgültig.
Der Negerboy, der Peters Segeltuchtasche und seinen Mantel getragen hatte, schloß das Zimmer 311 auf und machte Licht. Er stellte die Tasche auf einen Tisch, den Mantel hängte er über einen Kleiderbügel. Peter Schimmelpfennig stand zum erstenmal in seinem Leben in einem Hotelzimmer.
„Bad“, sagte der schwarze Junge in seiner blauen Leinenjacke und öffnete die schmale Tür zu einem Nebenraum.
„Du sprichst deutsch?“ fragte Peter.
„Nein, Chef.“ Der junge Neger zeigte seine weißen Zähne. „Nur zehn Wörter von Tourists.“ Er zog jetzt eine breite Gardine zurück und schob eine Glastüre auseinander. „Balkon, Chef“, erklärte er.
Peter ging durch die aufgeschobene Glastür. Dicht unter dem Balkon waren die Silhouetten von Palmen zu erkennen. Gleich hinter ihnen lag eine weite, halbrunde Bucht. Wellen mit weißen Schaumkronen schlugen an den Strand, und man hörte ihr Rauschen.
„Ist das der Ozean?“ fragte Peter.
„Ja, Chef.“ Der Boy nickte.
In gleichmäßigen Abständen kreiste der Lichtstrahl des Leuchtfeuers vom Flugplatz herüber durch die Nacht. Für die Flugzeuge aus Europa oder Amerika signalisierte es die westlichste Ecke des afrikanischen Erdteils.
„Wie heißt du?“ wollte Peter jetzt wissen. Aber der schwarze Junge in seinem blauen Jackett verstand ihn nicht. Da zeigte Peter sich selbst auf die Brust und sagte: „Ich Peter — und du?“
„Verstanden, Chef“, grinste der Boy und strahlte. „Ich Name Doudou.“
„Also du heißt Doudou?“ fragte Peter freundlich.
„Ja, Doudou, Chef.“ Der Boy nickte.
Jetzt holte Peter seine Schachtel mit dem Weihnachtsgebäck, zeigte den Inhalt und machte den Deckel wieder zu.
„Doudou, für dich“, sagte Peter. Gleichzeitig gab er zu verstehen, daß er leider kein Geld hätte, um ihn für seine Dienste belohnen zu können.
„Danke, Chef, vielen Danke.“ Doudou schien sich wirklich aufrichtig zu freuen. Seine Augen strahlten. „Immer Doudou sagen, wenn etwas brauchen“, sagte er. An der Tür machte er noch einmal kehrt und grüßte beinahe militärisch. Er legte seine rechte Hand an die Stirn und grinste. „Gute Nacht, Chef.“ Damit ging er rückwärts aus dem Zimmer.
Erst eine gute Minute später begriff Peter Schimmelpfennig: Er war endlich allein. Er blieb mitten in seinem Hotelzimmer stehen, machte die Augen zu und streckte die Arme aus, so weit und so hoch, wie es ihm möglich war. Es war wie eine Explosion. Gleich darauf schlug er sich schnell und immer wieder die Arme um den Leib, so, als ob es auf einmal wahnsinnig kalt wäre.
Eine Weile später stand Peter Schimmelpfennig unter der Dusche, putzte sich die Zähne und schlüpfte in seinen Schlafanzug. Dann machte er die Lichter aus und ging auf den Balkon.
In Hamburg hingen jetzt die Eiszapfen an den Dachrinnen, und auf der Alster konnte man Schlittschuh laufen. Irgendwo lag jetzt Frau Schimmelpfennig in ihrem Bett und warf sich von einer Seite auf die andere. Oder sie schlief überhaupt nicht und starrte nur an die Schlafzimmerdecke. Und er stand hier barfuß und in seinem zitronengelben Schlafanzug auf dem Balkon eines afrikanischen Hotels. Und die Palmen, auf die er hinuntergucken konnte, der Ozean und die Dämmerung mit ihren rötlichen Lichtern am Horizont — das alles war kein Traum und keine Täuschung.
Auf dem Balkon standen zwei Liegestühle. In einen davon setzte sich Peter
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