Der blinde Passagier
ungezwungen wie möglich in die Landschaft.
„Mehr nach links!“ kommandierte Rodrigo. „Ausgezeichnet, jetzt ist der Zuckerhut genau neben deinem linken Ellbogen.“
Anschließend ging es lange durch einen Tunnel, der von Neonröhren beleuchtet war.
„Nachdem du mir schon einige Löcher in den Bauch gefragt hast”, sagte der junge Brasilianer in seinem gelben Hemd nach einer Weile, „darf ich jetzt auch mal?“
„Bitte“, sagte Peter. „Tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Ich mache mir natürlich so meine Gedanken“, fing Herr Sola vorsichtig an. „Der vielbeschäftigte Herr Tavares hat dazu gar keine Zeit. Bestimmt kommt er auch gar nicht auf die Idee, sich über andere Leute Gedanken zu machen. Aber ich, wie gesagt...“ Er blickte kurz von der Fahrbahn weg und zu Peter Schimmelpfennig, als wolle er sehen, ob der Junge neben ihm etwas sagen würde. Aber Peter Schimmelpfennig schaute nur geradeaus.
„Ein Junge in deinem Alter kommt mutterseelenallein nach Rio. Du mußt zugeben, das passiert nicht jeden Tag. Ich meine, das ist ungewöhnlich.“
„Wie man’s nimmt“, sagte Peter Schimmelpfennig. „Heutzutage fliegen Raketen zur Venus und werden Herzen verpflanzt wie Winterastern.“
„Und Nieren“, grinste der junge Brasilianer und steckte sich eine neue Zigarette an. „Aber dazu kommt noch, daß dein Telefongespräch mit Hamburg so ein paar Merkwürdigkeiten hatte.“ Herr Rodrigo Sola grinste wieder. „Übrigens mußt du auf dein Geld aufpassen“, sagte er dann überraschend. „In Rio gibt es so viele Taschendiebe wie Polizisten. Und auch sonst. Zeig dein Geld nie! Sofort wird alles um das Doppelte und Dreifache teurer.“
„Besten Dank für die Warnung“, sagte Peter Schimmelpfennig. Und dann fragte er gleich hinterher wie aus heiterem Himmel: „Die Landessprache hier ist Spanisch, oder? Es hört sich jedenfalls so an.“
„Portugiesisch“, korrigierte Rodrigo Sola. „Aber man sagt ,Brasileiro’ dazu, weil es bisweilen etwas vom Portugiesischen abweicht und die Brasilianer im übrigen auch ihre eigene Sprache haben wollen. Ich dachte übrigens, daß ich jetzt dran bin, Fragen zu stellen.“
Aber in diesem Augenblick bog Herrn Solas schrottreifer Wagen in eine Kurve, und das Meer war wieder zu sehen.
„Die Copacabana!” rief der junge Brasilianer jetzt, und dabei drehte er sein Autoradio auf volle Lautstärke. Im gleichen Augenblick kurvte er in die Avenida Atlantica. „Der Traum aller Touristen! Vier Kilometer weißer Sand. Der Strand aller Strände! Was sagen Sie jetzt, junger Freund?“ Der Wagen rollte langsam weiter, und aus dem Autoradio klang Sambamusik.
Die Avenida zog einen großen und weiten Bogen am Ozean entlang. Auf der Seite zur Stadt hin stand ein Hotel neben dem anderen, und auf der anderen Seite lag der Strand. Er war beinahe zugedeckt von Menschen und Sonnenschirmen. Vom Meer schlug eine hohe Brandung zum Ufer. Die Sonne schien, und der Himmel war hell und blau.
„He, hat es dir die Sprache verschlagen?“ Der junge Brasilianer lachte.
„So ziemlich“, gab Peter Schimmelpfennig zu. Er wußte wirklich nicht, wohin er zuerst blicken sollte.
Das Hotel Excelsior lag an der Ecke eines Häuserblocks und etwa in der Mitte der Avenida Atlantica.
„Das ist meine Adresse und meine Telefonnummer“, sagte Herr Rodrigo Sola und angelte eine Visitenkarte aus seiner Hemdtasche. Gleichzeitig steuerte er seinen Straßenkreuzer in die Richtung zum Hoteleingang. Als er dann anhielt, kam die ganze Reihe der Autos, die hinter ihm gefahren waren, zum Stehen. Peter Schimmelpfennig stieg aus, so schnell er konnte, und griff nach seiner Segeltuchtasche und den übrigen Sachen. „Noch einmal besten Dank. Und ich melde mich bestimmt.“ „Da bin ich beinahe sicher“, grinste der schwarzhaarige Brasilianer. Er hatte ganz weiße Zähne und Augen, die vergnügt und lustig blitzen konnten. „Du hast ja noch einiges aufzuklären.“
Die wartende Autokolonne fing an zu hupen.
„Also, buenas dias“, rief Rodrigo Sola und fuhr los. Sein Autoradio spielte noch immer in voller Lautstärke.
Auch in Hotels gibt es blinde Passagiere
Im ersten Augenblick sah es in der Empfangshalle des Hotels Excelsior aus wie in einer Gepäckaufbewahrung. Überall standen Koffer, Taschen und Hutschachteln herum. Eine amerikanische Reisegesellschaft war gerade angekommen. Sie bestand in der Hauptsache aus älteren Damen, die sich alle ein wenig ähnlich sahen. Sie trugen fast ausnahmslos
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