Der blinde Passagier
Kopf gefallen“, stellte der weißhaarige Redakteur fest, der für Politik zuständig war.
„Nein, bestimmt nicht“, sagte Dr. Liesegang nachdenklich und zog wieder einmal an seiner schwarzen Zigarre. „Er ist, Gott sei Dank, schlau genug, daß man hoffen darf, es passiert ihm nichts.“
Gespräche rund um den Zuckerhut
Der junge Brasilianer namens Rodrigo Sola hatte es übernommen, Peter Schimmelpfennig in seinem Hotel abzuliefern. Er fuhr einen riesigen, offenen amerikanischen Straßenkreuzer, der allerdings seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Sämtliche vier Kotflügel hatten mehr oder weniger große Beulen, die hintere Stoßstange fehlte, und ein Scheinwerfer war eingedrückt.
„Für Rio der ideale Wagen“, behauptete der junge Mann in seinem gelben Hemd. Er lag in der Ecke seines breiten Sitzes hinter dem Steuerrad, und seine linke Hand hing mit einer Zigarette über dem Asphalt. Das Autoradio spielte brasilianische Musik.
Peter Schimmelpfennig konnte die Beine ausstrecken wie zu Hause. Er genoß den Blick auf die fremde Stadt und den Wind in seinem Haar.
Wenn Herr Sola Gas gab, klingelte es im Motor, aber die Fahrt beschleunigte sich trotzdem. Er stoppte, kurvte haarscharf an anderen Wagen vorbei und lachte vergnügt, wenn ihm ein anderes Auto beinahe in die Seite fuhr.
„Verkehrsregeln gibt es hier nicht“, erklärte der junge Brasilianer. Er zog an seiner Zigarette und überholte eine Straßenbahn. „Man fährt, wo gerade Platz ist und so schnell es geht. Dabei gibt es kaum Unfälle. Wenn allerdings einmal etwas passiert, hängen die Autos hinterher gleich in der Hochspannungsleitung oder landen irgendwo auf einem Balkon im zweiten Stock.“
Aus dem Autoradio kam jetzt eine Stimme. „Babalu“, rief sie immer wieder, „Babalu.“
„Das ist eine neue Limonade“, erklärte Rodrigo. „Sie wollen Coca-Cola Konkurrenz machen.“ Er suchte einen Sender mit Musik.
„Sind Sie eigentlich Brasilianer?“ fragte Peter Schimmelpfennig. Sie fuhren jetzt schon eine ganze Weile über die Avenida Beira Mar am Atlantik entlang. Die Schatten wurden allmählich länger, aber die Luft war noch immer heiß und feucht.
„Ich habe einen brasilianischen Paß, wenn du das meinst.“
Herr Sola lachte, und seine Hand mit der Zigarette zog einen Kreis durch die Luft. „Was ist ein echter Brasilianer? In unserer Familie gab es Franzosen, Spanier, Indianer und Mischlinge aus Bahia. Mein Vater ist Deutscher, und meine Mutter kommt aus Alegrete. Das liegt ganz im Süden dicht vor Uruguay.“
„Und Sie arbeiten bei einer Zeitung?“ fragte Peter Schimmelpfennig so harmlos wie möglich.
„Ich bin ein ,Cachorrinho’ , wenn du’s genau wissen willst“, grinste der junge Herr Sola. „So sagt man hier zu den Hunden, die sich ihr Fressen auf den Straßen und aus den Abfällen zusammensuchen. Man gibt ihnen einen Fußtritt, aber sie kommen zurück. Man gibt ihnen noch einen Fußtritt, und sie kommen wieder. Bis man es eines Tages satt hat, sie immer davonzujagen. Dann behält man sie im Haus, und sie gehören auf einmal zur Familie. Wenn sie Glück haben.“
Die Straße führte jetzt immer dichter am Strand entlang. Man sah die ersten Sonnenschirme und Menschen, die im Sand lagen oder badeten.
„Aber eigentlich bin ich Journalist, das stimmt schon“, meinte der junge Brasilianer. „Ich kann nur nicht in irgendeiner Redaktion herumsitzen. Deshalb arbeite ich für jede Zeitung, die mich holt. Wenn die lieben Zeitungen gerade mal nichts von mir wissen wollen, mache ich zwischendurch eben etwas anderes. In Brasilien kann man immer Geld verdienen. Nur ist es manchmal mehr und manchmal weniger.“ Er warf seine brennende Zigarette auf die Straße. „Und jetzt sind wir gleich am Zuckerhut.“
Der Straßenkreuzer mit seinen eingebeulten Kotflügeln kurvte jetzt durch die Bucht von Botafogo. Der weiße Sandstrand ging vom Meer bis zur Straße und war voll von Menschen in Badehosen. Gegenüber auf einer Halbinsel erhob sich dann der vierhundert Meter hohe Granitfelsen, der für Rio in der Welt so bekannt geworden ist wie der Eiffelturm für Paris.
„Den müßte ich eigentlich fotografieren”, sagte Peter Schimmelpfennig.
„Wenn ich für jedes Foto, das die Touristen vom Zuckerhut machen, nur hundert Centavos bekäme“, meinte der junge Brasilianer und kletterte aus seinem Wagen, „wäre ich ein gemachter Mann.“ Er ließ sich den Fotoapparat geben, und Peter Schimmelpfennig stellte sich so
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