Der Botschafter
Präsident Beckwith ihm den Posten des CIA-Direktors antrug, wurde Monica seine Stellvertreterin. Als Clark in den Ruhestand treten wollte, zog Monica alle Register, um seine Nachfolgerin zu werden, und Beckwith ernannte sie dazu.
Ronald Clark hinterließ ihr die CIA in trauriger Verfassung.
Eine Serie weiterer Spionagefälle, darunter auch der Fall Aldrich Ames, hatte die Stimmung der Mit arbeiter auf den Nullpunkt sinken lassen. Die Agency hatte die Regierung weder vor den indischen und pakistanischen Atomtests noch vor den Raketentests des Irans und Nordkoreas gewarnt. Während der Anhörung vor Monicas Ernennung hatten mehrere Senatoren sie aufgefordert, Umfang und Kosten der Central Intelligence Agency zu rechtfertigen; einer hatte sogar laut darüber nachgedacht, ob die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Kalten Kriegs überhaupt noch eine CIA brauchten.
Monica Tylers Überzeugung nach war sie der einzige Mensch in Langley, der genügend Weitblick besaß, um die Agency sicher durch die gefährlichen Untiefen der Zeit nach dem Kalten Krieg zu steuern. Sie hatte sich intensiv mit der Geschichte der Geheimdienste befaßt und wußte, daß es manchmal nötig war, einige wenige zu opfern, um das Überleben der meisten zu sichern. Sie fühlte sich den OSS-Offizieren verwandt, die im Zweiten Weltkrieg Männer und Frauen in den Tod geschickt hatten, um Hitlers Deutschland irrezuführen. Monica würde niemals zulassen, daß die Agency kastriert wurde. Sie würde niemals zulassen, daß die Vereinigten Staaten ohne effektiv arbeitenden Geheimdienst dastanden. Und sie würde alles tun, daß sie die Leitung behielt. Deshalb war sie der Gesellschaft beigetreten; deshalb hielt sie sich an die von ihr aufgestellten Verhaltensregeln.
Um ein Uhr nahm sie den Hörer des abhörsicheren Telefons ab und wählte eine Nummer in London. Sekunden später hörte sie die angenehme, kultivierte Stimme Daphnes, der Assistentin des Direktors. Dann meldete sich der Direktor selbst.
»Wegen Osbourne brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen«, berichtete sie. »Er hat andere Aufgaben erhalten, und die Akte Oktober ist endgültig geschlossen. Was die CIA betrifft, ist Oktober tot und begraben.«
»Gut gemacht«, sagte der Direktor.
»Wo ist die Sendung jetzt?«
»In Richtung Karibik unterwegs«, antwortete er. »Sie müßte in den nächsten sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden in den Vereinigten Staaten eintreffen. Und damit sind unsere Probleme dann gelöst.«
»Ausgezeichnet«, sagte sie.
»Ich verlasse mich darauf, daß Sie sämtliche Informationen weitergeben, die dazu beitragen könnten, daß die Sendung pünktlich ankommt.«
»Selbstverständlich, Direktor.«
»Ich habe gewußt, daß ich auf Sie zählen kann. Schönen Tag noch, Picasso«, sagte der Direktor und legte auf.
35
CHESAPEAKE BAY, MARYLAND
Der offene Boston Whaler rollte in der kabbeligen See der Chesapeake Bay. Die Nacht war klar und bitterkalt; ein heller, zu drei Vierteln voller Mond stand hoch über dem östlichen Horizont. Delaroche hatte ihre Positionslichter kurz nach dem Einlaufen in die Bay ausgeschaltet. Jetzt beugte er sich nach vorn und drückte auf eine Taste des in die Instrumententafel eingebauten GPS-Empfängers. Das Gerät berechnete automatisch ihre genaue Position; sie befanden sich mitten in dem vielbefahrenen Chesapeake Channel.
Rebecca Wells stand neben ihm und hielt sich am Steuerrad der zweiten Konsole des Whalers fest. Sie zeigte wortlos über den Bootsbug nach vorn. Ungefähr eine Meile vor ihnen leuchteten die Lichter eines Containerschiffs. Delaroche drehte einige Grad nach Backbord ab und steuerte mit hoher Fahrt die seichten Gewässer des Westufers an.
Delaroche hatte seinen Kurs durch die Chesapeake Bay auf der langen Fahrt von Nassau zur amerikanischen Ostküste genau festgelegt. Diese Etappe ihrer Reise hatten sie an Bord einer großen seetüchtigen Jacht zurückgelegt, die von zwei ehemaligen SAS-Männern im Dienst der Gesellschaft geführt wurde. Rebecca und er hatten benachbarte Kabinen bezogen.
Tagsüber studierten sie NOAA-Karten der Chesapeake Bay, lasen Dossiers von Douglas Cannon und Michael Osbourne und lernten den Stadtplan von Washington auswendig. Nachts gingen sie zu Schießübungen mit Delaroches Beretta aufs Achterdeck. Rebecca fragte ihn immer wieder nach seinem Namen, aber Delaroche schüttelte nur den Kopf und wechselte das Thema. In ihrer Frustration taufte sie ihn schließlich »Pierre«,
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