Der Brombeerpirat
träge den Schweiß von der Stirn.
Wencke beobachtete sie unauffällig. War irgendetwas an ihr verdächtig? Warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass Rika nicht ehrlich war?
»Wenn es ein Selbstmord war, dann muss sich dieses Mädchen verdammt angestrengt haben, um hier heraufzukommen. Wenn es Mord war, dann …« Wencke machte eine kurze Pause. »Dann war es sicherlich ein Kraftakt, sie über die Mauer zu wuchten.«
Rika schaute nicht auf.
»Ich meine, wenn sich diese Leefke Konstantin mit Händen und Füßen gewehrt hat, dann hat sich der Täter oder die Täterin sicher ziemlich den Rücken verrenkt.«
Jetzt blinzelte Rika. Nicht wirklich aus der Bahn geworfen, aber wachsam.
Wencke beschloss, weiterzumachen. »Aber das Per sonal hier ist es ja gewohnt, Menschen zu heben, und dieses Mädchen war ja noch so jung und so gertenschlank, nicht wahr? Schlanker als du, Rika, oder?«
Rika stand auf und stellte sich direkt neben sie. Beide schauten zum Meer, das sich weit unter ihnen satt und leise ausbreitete. Nur ein weißes Segelschiff bewegte sich weit entfernt unterhalb des Horizontes auf dem Wasser. Alles andere schien in der Hitze erstarrt zu sein.
Rika flüsterte. »Wencke, tut mir Leid, wenn ich es dir gerade jetzt sagen muss, ich weiß, du hast eine ziemliche Ladung abbekommen heute, aber mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn du wieder verschwindest.«
Jetzt hatte Rika verstanden. Jetzt hatte sie angebissen. Doch sie hatte immer noch das herzliche, gutmütige Krankenschwesterlächeln auf dem Gesicht.
»Himmel, du bist angeschossen worden, hier auf Norderney. Und Jasper ist immer noch nicht da. Weiß der Teufel, wo er steckt, ob er in Gefahr ist o der festgehalten wird. Aber was auch mit ihm passiert ist, ich bin mir sicher, du wirst nicht dahinterkommen und bist zudem noch eine Gefahr für dich selbst, aber auch für mich und Jasper. Irgendjemandem passt es nicht, dass du herumschnüffelst, und deswegen möchte ich, dass du die nächste Fähre nimmst.« Rika sprach leise, aber unverkennbar aggressiv.
»Ich werde nicht gehen.«
Rika machte sich nicht die Mühe, den Blick von den Wellen am Horizont abzuwenden, sie bewegte sich nicht, nur ihre rot bemalten Lippen. »Bei mir kannst du jedenfalls nicht bleiben. Wir fahren jetzt zu mir nach Hause, und dann packst du deine Sachen.«
Eine alte Frau mit welker Haut und Bademantel betrat den steinernen Garten und legte sich einige Meter von ihnen entfernt auf eine Liege im Schatten.
Wencke stützte sich nur kurz auf den bandagierten Arm, als sie sich ruckartig vom Geländer abstieß, der Schmerz fuhr wie ein Blitz in ihr Bewusstsein. »Du hast meine Mutter verrückt gemacht mit deiner angeblichen Sorge um Jasper. Sie hat mich geradezu angefleht, ihn zu suchen, weil du so verzweifelt geklungen hast. Egal, ob deine Angst nun echt oder gespielt war, fest steht: Ohne dich läge ich jetzt unter der friedlichen Sonne der Kanaren, meine Liebe.« Sie sprach laut, machte bei diesem heimlichen Geflüster nicht mehr mit.
»Sei bitte etwas leiser, Wencke. Das ist es gerade, was mich und dich und uns alle in Gefahr bringt. Immer bist du viel zu laut.«
»Sag mir, was der wahre Grund ist, Rika. Wenn du mir nur einmal klipp und klar sagst, was hier eigentlich wirklich gespielt wird, dann lass ich dich auch in Ruhe.«
Ruckartig ergriff Rika Wenckes Schultern, sie blickte ihr in die Augen. Das schwarze Endloshaar hatte sich an ihrem Schwesternkleid und in der Sonnenhitze elektrisiert, es schwebte knisternd und wild um ihr wütendes Gesicht. »Du meinst, hier wird gespielt?«, zischte sie. »Vielleicht hast du Recht und es gibt so etwas wie Spielregeln hier auf der Insel, und Jasper hat sich nicht daran gehalten. Er ist und war nie in der Lage zu erkennen, wer seine Mitspieler und wer die Gegner sind. Und wer die höhere Punktzahl hat, der ist nun mal der Sieger. Jasper ist rausgeflogen, wenn du verstehst, was ich meine. Kaltgestellt, auf welche Weise auch immer, aber ich bin noch im Spiel, vielleicht als Jägerin, vielleicht als Gejagte, und das Letzte, was ich brauche, ist eine unfähige Komplizin.«
»Mensch ärgere dich nicht?«
Rika nahm ihre Tasche unter den Arm. Ihre Schuhsohlen machten ein abgedämpftes Geräusch auf dem aufgeworfenen Sand, als sie zum Ausgang hastete.
Den Türgriff bereits in der Hand, blieb sie stehen, drehte sich um, und endlich sprach sie so laut, dass man sie wirklich hören konnte. »Monopoly!«
22.
Aufkommende Bewölkung, 30°C im
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