Der Buddha aus der Vorstadt
Berufsberater in der Schule meinte, ich solle zum Zoll gehen - wahrscheinlich dachte er, ich hätte ein natürliches Talent zum Filzen von Koffern. Und Mum meinte, ich solle zur Marine gehen, vielleicht weil ich so gerne Hosen mit weitem Schlag trug.
Dad hatte eine idyllische Kindheit, und wenn er mir von seinen Abenteuern mit Anwar erzählte, fragte ich mich oft, warum er seinen Sohn in einen trübseligen Londoner Vorort verbannte, von dem es hieß, daß Menschen, die hier ertranken, vor dem inneren Auge nicht ihr Leben, sondern ihre Doppelglasfenster vorbeiziehen sahen.
Erst später, als er nach England kam, begriff Dad, wie kompliziert das tägliche Leben sein konnte. Er hatte noch nie in seinem Leben gekocht, noch nie abgewaschen, noch nie seine Schuhe geputzt oder sein Bett gemacht. Dafür gab es Diener. Wenn er sich an das Haus in Bombay erinnere, erzählte uns Dad, könne er sich die Küche nicht vorstellen: Er hatte sie nie gesehen. Allerdings konnte er sich entsinnen, daß sein Lieblingsdiener wegen gewisser Missetaten in der Küche entlassen worden war: Einmal hatte er im Liegen Toast geröstet und dabei das Brot mit den Zehen über die Flamme gehalten, und bei einer anderen Gelegenheit hatte er Sellerie mit der Zahnbürste geputzt - seiner eigenen, wie sich herausstellte, nicht der seines Herrn, aber das war keine Entschuldigung. Diese Vorfälle hatten Dad zum Sozialisten werden lassen, jedenfalls soweit er jemals ein Sozialist war. Mum irritierte Dads aristokratische Nutzlosigkeit, aber sie war auch stolz auf seine Familie. »Sie ist bedeutender als die der Churchills«, ließ sie alle wissen. »Mein Mann fuhr mit einer Pferdekutsche in die Schule.« So sorgte sie dafür, daß man Dad nicht für einen jener indischen Bauern hielt, die in den fünfziger und sechziger Jahren in Scharen nach Großbritannien gekommen waren, und denen man nachsagte, daß sie nicht wüßten, wie man mit Messer und Gabel umgehe, geschweige denn mit einer Toilette, da sie auf den Sitz stiegen und von hoch oben herunterschissen.
Im Unterschied zu den Bauern war Dad von seiner Familie nach England geschickt worden, um dort zu studieren. Seine Mutter hatte ihm und Anwar einige wollene, kratzige Unterhemden gestrickt, ihnen beim Abschied von Bombay zugewinkt und sie schwören lassen, niemals zu Schweinefleischessern zu werden. Wie vor ihm Gandhi und Jinnah sollte Dad als geschickter englisch diplomierter Rechtsanwalt und vollendeter Tänzer nach Indien zurückkehren. Aber als er losfuhr, ahnte Dad nicht, daß er das Gesicht seiner Mutter nie Wiedersehen würde. Dies war der große, unausgesprochene Kummer seines Lebens, und ich denke, das erklärt seine hilflose Anfälligkeit für Frauen, die sich um ihn sorgten, für Frauen, die er lieben konnte, wie er seine Mutter hätte lieben sollen, der er nie auch nur einen einzigen Brief schrieb.
London und die Old Kent Road waren ein eiskalter Schock für Anwar und Dad. Es war naß und neblig; Dad nannte man Sunny Jim; es gab nicht genug zu essen; und Dad hat es nie geschafft, Geschmack an Bratenfett auf Brot zu gewinnen. »Schmeckt wie Nasenpopel«, hatte er gesagt und damit den Bann über das Nationalgericht der Arbeiterklasse verhängt. Es war noch die Zeit der Lebensmittelkarten, und der Bezirk sah durch die Bombenangriffe, die alles in Trümmer gelegt hatten, ziemlich heruntergekommen aus. Der Anblick der Briten im Mutterland erstaunte und ermutigte Dad. Er hatte vorher noch nie einen armen Engländer gesehen, kannte keine englischen Straßenkehrer, Müllmänner, keine Engländer hinter dem Tresen eines kleinen Geschäfts oder einer Bar. Er hatte noch nie zuvor einen Engländer gesehen, der sich das Brot mit den Fingern in den Mund stopfte, und niemand hatte ihm gesagt, daß die Engländer sich nicht regelmäßig wuschen, weil das Wasser zu kalt war - wenn sie überhaupt Wasser in ihrer Wohnung hatten. Und als Dad versuchte, in den Eckkneipen über Byron zu diskutieren, hatte ihn vorher niemand gewarnt, daß nicht alle Engländer lesen konnten, oder daß es ihnen möglicherweise nicht gefiel, wenn ein Inder ihnen Nachhilfeunterricht über die Lyrik eines Perversen und Verrückten erteilte.
Dad und Anwar hatten Glück; sie kannten jemanden, bei dem sie wohnen konnten. Dr. Lai, ein Freund von Dads Vater, war ein indischer Zahnarzt von riesenhaftem Wuchs und, so behauptete er, ein Freund von Bertrand Russell. Während des Krieges hatte in Cambridge ein einsamer Russell Dr. Lai den
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