Der Chirurg von Campodios
Glockenguss schwankten zwar in der Regel nur zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Prozent, und der Kupferanteil verhielt sich entsprechend, aber diese vergleichsweise geringen Unterschiede konnten von elementarer Bedeutung sein. Er hatte deshalb die Legierung im Kaltzustand wieder und wieder untersucht, die Farbe des Metalls studiert, die Hand darauf gelegt, gerade so, als könnte er die Zusammensetzung erfühlen, ja, er hatte sogar ein Stück Außenhaut mit der Feile abgeschrotet und die Späne einzeln untersucht, allein: Ein Zweifel war geblieben. Auch dann noch, als er sich entschlossen hatte, den mittleren Weg zu gehen und das Ausbesserungsstück mit einundzwanzigprozentigem Zinn herzustellen.
Haff blickte nach oben, wo die große Rolle des Flaschenzugs mittels einer von ihm selbst konstruierten Laufkatze seitwärts auswanderte. »Wir ziehen die Glocke erst noch ein Stück weit zum Stückofen, bevor wir sie ankippen. Hast du deinen Flaschenzug klar?«, fragte er Hewitt.
»Habe ich. Es kann losgehen.«
Gemeinsam zogen sie den schweren Metallkörper zum Schmiedefeuer. Auf ein Zeichen von Haff betätigte Hewitt die zweite Hebevorrichtung. Langsam, fast widerstrebend schob sich die offene Seite der Glocke über die Flammen.
Und dann passierte es.
Mit einem hässlichen Geräusch, das an das Kreischen der Tukane im Urwald erinnerte, zersprang das Seil von Hewitts Flaschenzug. Die Glocke, ihres vorderen Halts beraubt, schwang nach unten durch, zerschmetterte auf ihrem Weg das Gemäuer der Esse, erzeugte einen riesigen Funkenregen und riss mit ihrem Außenwulst Haff von den Beinen. Dann schwang sie zurück und wieder vor, zurück und vor … ruhig und majestätisch, als sei nie etwas geschehen.
Haff stieß, ganz gegen seine sonstige Art, einen wüsten Fluch aus. Er lag inmitten eines Haufens von Glut und Mauersteinen und starrte zu dem Metallkörper empor. Der Riss war genau über ihm. »Alles in Ordnung mit dir, Hewitt?«
»Ja, Haff.« Hewitt mit seinen jungen Beinen war es gelungen, sich mit einem gewaltigen Sprung aus der Reichweite der Glocke zu retten.
»Dem Allmächtigen sei Dank! Mit mir auch.« Haff wollte sich aufrichten und bemerkte, dass es nicht ging. Sein rechtes Bein gehorchte ihm nicht. Er blickte hin – und glaubte nicht, was er sah, denn er verspürte keinerlei Schmerz. Sein Unterschenkel stand fast im rechten Winkel ab. Um das Bein herum bildete sich rasch eine Blutlache.
Aufstöhnend ließ Haff sich zurücksinken. Wie auf ein Kommando hatte der Schmerz eingesetzt. Er fraß sich in Wellen von unten durch seinen Körper, brandete hoch und schlug mit nie gekannter Stärke über ihm zusammen. »Hol, hol … Vitus«, keuchte der Alte.
Doch Hewitt, der Zuverlässige, war schon unterwegs.
»Bevor wir den Bruch richten, muss die Blutung stehen«, entschied Vitus. Er schritt zur Esse, wo er den von Haff geschmiedeten Spatel tief in die verbliebene Glut senkte. Dann wandte er sich wieder an den Verletzten. »Hat der Schmerz schon nachgelassen, Haff?«
Der Alte nickte matt. Er lag auf einer Bank, seine zusammengerollte Lederschürze unter dem Kopf. Um ihn herum herrschte emsiges Treiben.
Der Magister, der Haffs Oberschenkel mit einem starken Lederriemen abgebunden hatte, bemerkte: »Wer eine halbe Gallone besten spanischen Brandys intus hat, der spürt nicht mehr viel.«
»’s wär gut, wenn’s so wär«, seufzte Phoebe, die neben Haffs Kopf kniete. »Will nich, dasser leidet.« Sie wischte dem Alten mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, wrang es aus und tauchte es anschließend in eine von Enano bereitgehaltene Wasserschüssel. »Nu isses wieder schön kühl, ’s Tuch, nich? Ich leg’s dir auf ’n Kopp, sooo, isses gut so?«
Haff schlug die Augen nieder. Phoebe nahm das als Bestätigung.
»Wui, Haff«, fistelte der Zwerg aufmunternd, »beiß die Krächlinge zusammen, bald teißen die Funken wieder, ich versprech’s dir bei der heiligen Marie.«
»Wird Zeit, dass ich operiere«, sagte Vitus knapp und blickte zu Hewitt, der damit beschäftigt war, mehrere daumendicke Leisten von einem Scheitholz abzuspalten. »Bist du bald so weit?«
»Es dauert nicht mehr lange.«
»Gut, wenn ich mit dem Eingriff fertig bin, muss alles Hand in Hand gehen.« Er besah sich den vom Beinkleid befreiten Unterschenkel. Noch immer sickerte Blut aus der Bruchstelle. »Die Fraktur scheint gottlob unproblematisch zu sein, auch wenn sie offen ist. Schienbein und Wadenbein wurden glatt abgeknickt.
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