Der Chirurg von Campodios
Rückfahrt nach England treffen würde. Auf seiner Rückfahrt ohne Arlette …
Er vertrieb die unnützen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das, was über seinem Kopf gesprochen wurde:
»… Ihr mir noch immer schuldet … ja, Ihr mir noch immer schuldet!«
Oho! Das war die Stimme des Gastes. Bekam er noch Geld von Sanceur? Es versprach spannend zu werden. Vitus streckte sich noch mehr.
»Fünfzig Golddublonen … fünfzig … sonst keine Nigger!«
Lachen. Ein hämisches Lachen als Antwort! Das musste Sanceur sein. Sollten sich die beiden Ehrenmänner dort oben in die Haare kriegen?
»… zum letzten Mal … scherze nicht … Dublonen!«
»Ihr … nicht drohen … nicht hier … Habana!«
Kein Zweifel: Dort oben würde es gleich richtig zur Sache gehen. Vitus vergaß alle Vorsicht und stieg auf einen niedrigen Mauersims, um noch mehr zu hören. Er hob den Kopf – und erstarrte. Er hatte ein Geräusch vernommen, das er unter Tausenden auf dieser Welt herausgehört hätte. Es war das Geräusch eines sich ausrenkenden Kiefers. Und kurz darauf vernahm er die Melodie:
»Pirate’s blessing
is slitting,
is killing,
… is maha-ssa-cring!«
Das musste John »Jawy« Cutter sein! Ohne zu überlegen, kletterte er vom Mauersims herab und hastete um das Anwesen herum zur Eingangstür. Jawy war hier. Der Mordbube, der so unendlich viel Leid über ihn und die Männer der
Gallant
gebracht hatte! Der so viele brave Matrosen auf dem Gewissen hatte! Der seinen Instrumentenkoffer, seinen Stecken und seine Kiepe mit dem unersetzlichen Werk
De morbis
geraubt hatte!
Blind vor Zorn sprang Vitus ins Haus, eilte durch die Räume bis zum Kontor, wo Sanceur und Jawy sich am Elfenbeintisch wie zwei Kampfhähne gegenüberstanden. Zwischen ihnen eine reich gedeckte Tafel, deren Mittelpunkt eine riesige Lammkeule bildete. »Habe ich dich endlich, du Teufel in Menschengestalt!«
Der Pirat, der den Sklavenhändler am Kragen gepackt hielt, drehte sich um, überrascht und verblüfft zugleich. Doch nur Augenblicke später verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. »Sieh an, unser blonder Held von der
Gallant
, stimmt’s? Immer noch am Leben? Verpiss dich, Bürschchen, ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern.« Jawy wollte sich wieder Sanceur zuwenden, doch Vitus war schon bei ihm und riss ihn herum.
»Das wirst du aber müssen, Menschenschlächter.« Er rammte dem Piraten mit aller Kraft die Faust ins Gesicht.
Jawy, der alles erwartet hatte, nur keinen Angriff von einem Mann, der fast einen Kopf kleiner war, taumelte zurück. Sanceur, nun wieder frei, stieß einen heiseren Angstschrei aus und verschanzte sich hinter dem schweren Tisch.
Jawy schüttelte sich, zeigte ansonsten aber keinerlei Wirkung. Der Schlag hatte seinen Unterkiefer getroffen – und damit eine Stelle, die hart wie Granit war. »Das wirst du mir büßen, Bürschchen.« Seine Rechte fuhr zum Degen, die Linke zum Rapier.
»Darauf habe ich lange gewartet!«, versetzte Vitus grimmig. »Viel zu lange!« Ähnlich wie vor schweren Operationen erging es ihm auch jetzt: Wenn der entscheidende Zeitpunkt da war, fiel alle Aufregung von ihm ab. Er tat zwei, drei Schritte zurück und riss Haffs Degen aus der Scheide. »So, du Teufel, jetzt gilt’s!«
Lauernd kam der Pirat auf ihn zu. Er hatte erkannt, dass dies kein Spaß mehr war, sondern ein Kampf auf Leben und Tod werden würde. Aber solche Kämpfe waren nach seinem Geschmack, und bislang war er noch aus jedem siegreich hervorgegangen. Sein Blick wurde seelenlos, und mit einem dumpfen Laut hakte er abermals seinen Unterkiefer aus.
»Ja, stimm nur dein Liedchen an«, sagte Vitus kalt, »und genieße es, es könnte dein letztes sein.«
»Das werden wir sehen, Bürschchen. Schade, dass ich dir damals auf der
Gallant
nicht gleich den Garaus gemacht habe, aber dafür werde ich es jetzt umso mehr genießen.« Jawy lächelte boshaft und begann, während er seine Waffen wie Fangarme ausstreckte, Vitus zu umkreisen. Dann, fast schneller, als das Auge es wahrnehmen konnte, machte er einen Ausfall. Es war kein ernst gemeinter Ausfall, lediglich einer, der prüfen sollte, wie gut die Reflexe dieser halben Portion da vor ihm waren.
Sie waren gut. Sehr gut sogar. Jawy wurde sich bewusst, dass er mit dem Blonden kein leichtes Spiel haben würde, dass er es vielmehr mit einem Gegner zu tun hatte, der es verstand, in seinem Gesicht wie in einem Buch zu lesen. Anders war es nicht zu erklären, dass er, fast noch
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