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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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hatten sich noch gut angelassen. Die Nacht war klar gewesen, ein frischer Seewind hatte dafür gesorgt, dass sie nicht allzu sehr ins Schwitzen gerieten. Dann aber war das Vorwärtskommen zur Qual geworden. Immer wieder hatte ihnen undurchdringliche Wildnis den Weg versperrt, wodurch sie nach Süden abgedrängt worden waren. Nur unter größten Schwierigkeiten hatten sie sich jedes Mal wieder neu nach Westen, zum Meer hin orientieren können, und der kleine Gelehrte hatte ein ums andere Mal geschimpft: »Wenn der gottverfluchte Jawy hier wäre, würde ich ihm auf der Stelle den Hals umdrehen, so wahr ich Ramiro García heiße. Dann hätt’s ein Ende mit der Marschiererei.«
    »Wir müssen weiter. Denk daran, wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hat«, hatte Vitus stets geantwortet.
    »Das hat er wahrhaftig. Aber wie pflegte Pater Ambrosius immer zu sagen? ›Mein ist die Rache, spricht der Herr.‹«
    »Dem wäre entgegenzuhalten, dass Gott sich nicht um alles kümmern kann. Ein paar Dinge muss der Mensch schon selbst erledigen. Wär’s nicht so, brauchten wir gar nichts mehr zu tun.«
    Daraufhin hatte der Magister geschwiegen, sei es, dass ihm der Atem zu knapp gewesen war, sei es, dass Vitus’ Worte ihn überzeugt hatten. In jedem Fall war er verbissen weitermarschiert. Doch schon ein paar hundert Schritte später hatte er sich abermals gemeldet: »Was macht eigentlich deine Schulter?«
    »Soweit ganz gut. Ist ja nur eine Fleischwunde. Hast sie gut verbunden, altes Unkraut.«
    »Hm, hm.«
    So war die Nacht vergangen. Insgesamt dreimal hatten sie am nächsten Tag eine Rast eingelegt, wobei sie es strikt vermieden, sich niederzusetzen – getreu der alten Soldatenerkenntnis: Wer erst einmal lagert, kommt nicht wieder auf die Beine. Dann, irgendwann nach der letzten Pause, war Hewitt ins Unterholz geschlüpft, um sich zu erleichtern, und kurz danach aufgeregt zurückgekehrt. »Ich glaube, es ist nicht mehr weit! Ich habe ein paar Felsen entdeckt, die mir bekannt vorkommen. Sie bilden das Ende des kleinsten Seitenarms der Bucht.«
    Und er hatte Recht behalten. Jetzt, so kurz vor dem Ziel, marschierten die Freunde mit neuem Schwung. Vitus ging voran. Mühsam bahnte er sich einen Weg durch das dichte Ufergestrüpp. »Halt! Seht nur, da vorn zwischen dem Blattwerk: drei Mastspitzen!«
    Drei Mastspitzen, das sprach für eine große Galeone. Aber war es auch die gesuchte?
    Nach ein paar weiteren Schritten stellte sich heraus, dass vor ihnen, halb trockengefallen und auf Pallen ruhend, tatsächlich die
Torment of Hell
lag! Sie war nur eine Kabellänge entfernt, und an ihrem muschelbesetzten Rumpf machten sich zahlreiche Piraten zu schaffen. Offenbar flickten sie Einschusslöcher aus. Hoch oben auf dem Kommandantendeck, wohl fünfzig Fuß über dem Strand, bemühte sich eine Abteilung Zimmerer um den vierten Mast, den Besan, von dem nur noch der Stumpf und gebrochenes Tauwerk übrig waren. Seine Reste lieferten die Erklärung, warum Vitus aus der Ferne nur drei Masten erspäht hatte.
    Der Magister rückte seine Berylle zurecht, musterte eingehend das Bild der Zerstörung und meinte dann: »Sieht ganz schön zerzaust aus, die Dame, gerade so, als hätte ihr jemand ein paar Breitseiten auf den Pelz gebrannt. Das würde für deine These sprechen, Hewitt, dass sie sich mit jemandem angelegt hat. Vielleicht war es ja sogar unser Freund Taggart.«
    Der junge Matrose nickte. »Sie hat auch ein paar Unterwassertreffer abgekriegt. Das könnte bedeuten, dass sie auf größere Entfernung beschossen wurde.«
    Vitus pflichtete ihm bei. »Schon möglich. Nun, was auch immer da draußen auf See passiert ist, hier in der Bucht scheinen sich die Brüder sicher zu fühlen. Dennoch sollten wir uns nicht auf ihre Unachtsamkeit verlassen.« Er drängte die Freunde zurück ins dichtere Unterholz. »Die
Torment
läuft uns nicht weg, und Jawy mit seinem Guineaman ist auch noch nicht da – wenn er überhaupt kommt. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Ich denke, wir übernachten in der Nähe. Vorhin habe ich einen kleinen Bach plätschern hören. Dort können wir trinken und uns erfrischen.«
    »Wui, wui.« Das Piepsstimmchen des Zwergs klang matt. Er als Kleinster hatte es von allen am schwersten gehabt und die meisten Schritte gehen müssen. »Un dann nix wie platt machen bei Mutter Grün, wie?«
    »Du sagst es, Enano.« Vitus spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel und grenzenloser Erschöpfung Platz machte. »Wer übernimmt die

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