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Der Clan

Titel: Der Clan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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hoffte, er würde das plötzliche Zittern der Hand, in der sie die Zigarette hielt, nicht merken.
    »Ich bin nicht so dumm, wie du zu glauben scheinst«, sagte er, und auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein Ausdruck weibischer Verschlagenheit. »Er hat die Nacht hier verbracht und am nächsten Morgen plötzlich beschlossen, einen Monat früher als geplant nach Europa zu fahren.«
    Sie zwang sich zu einem Lachen. »Das sagt gar nichts.«
    »Vielleicht doch!« widersprach er und stieg aus dem Bett. Er durchquerte das Zimmer und blieb vor dem Wandschrank stehen, in dem seine Socken und Unterwäsche aufbewahrt wurden. Er zog die unterste Schublade hervor, nahm etwas heraus und warf es ihr zu.
    Es fiel zu Boden, und sie hob es auf. Es war der Büstenhalter für stillende Mütter, den sie an jenem Abend getragen hatte. Er war zerrissen, und die Fetzen hingen ihr von den Fingern. Sie hatte ihn gar nicht vermißt.
    »Wo hast du das her?« fragte sie.
    »Aus dem Wäschekorb in meinem Badezimmer«, sagte er. »Ich hatte ein Hemd hineingeworfen, ohne die Manschenttenknöpfe herauszunehmen. Und als ich den Korb öffnete, um sie mir zu holen, fiel das ganze Zeug raus, und das da war dabei.«
    Sie schwieg.
    »Er hat dich vergewaltigt?« So, wie er es sagte, war es eher eine Feststellung als eine Frage.
    Sie antwortete nicht.
    »Der gemeine, dreckige Alte!« fluchte er. »Ich verstehe nicht, wie meine arme Mutter ihn all die Jahre ertragen konnte. Er gehört in eine Heilanstalt. Es ist nicht das erste Mal, daß er so etwas getan hat. Er hat dir die Kleider vom Leib gerissen?«
    Sie betrachtete den Büstenhalter in ihrer Hand. »Ja«, flüsterte sie.
    »Warum hast du denn nichts unternommen?« fragte er. »Warum hast du nicht geschrien?«
    Sie holte lang und tief Atem und schaute ihn an. Ihre Stimme war klar und ruhig. »Weil ich wollte, daß er es tut.«
    Plötzlich ließ er die Schultern hängen und schien in sich zusammenzufallen. Vor ihren Augen wurde er zwanzig Jahre älter. Sein Gesicht war grau und blaß, er streckte eine Hand aus und setzte sich auf den Bettrand.
    »Er haßt mich«, flüsterte er wie zu sich selbst. »Er hat mich immer gehaßt. Von meiner Geburt an, weil ich zwischen Mutter und ihn getreten bin. Schon als ich noch ein Kind war, hat er mir immer Sachen weggenommen. Einmal hatte ich eine Puppe. Er nahm sie mir und schenkte mir ein Spielzeugauto. Als ich nicht damit spielen wollte, hat er mir auch das Auto genommen.«
    Er legte sich bäuchlings aufs Bett, vergrub sein Gesicht in der Beuge seiner Ellenbogen und begann wieder zu weinen.
    In ihrem Kopf hämmerte der Schmerz. Sie stand müde auf und wollte in ihr Zimmer gehen.
    »Sally!«
    Sie drehte sich ihm zu. Er saß aufrecht im Bett, die Tränen liefen über seine Wangen. »Du wirst es nicht zulassen, daß er mir auch dich noch fortnimmt, nicht wahr?«
    Sie stand dort, ohne zu antworten.
    »Wir wollen vergessen, was geschehen ist«, sagte er schnell. »Ich werde gut zu dir sein, du wirst schon sehen. Ich rede nie wieder davon.«
    Er stieg aus dem Bett, fiel auf die Knie, umklammerte ihre Beine und schmiegte sein Gesicht an ihre Schenkel. »Verlaß mich nicht! Ich könnte es nicht ertragen, daß du mich verläßt!«
    Sie ließ ihre Hand auf seinen Kopf sinken und ließ sie dort.
    Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, er sei ihr Kind. Und vielleicht sollte es auch so sein.
    »Steh auf und geh wieder ins Bett, Junior«, sagte sie leise. »Ich verlasse dich nicht.« Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich.
    An einem Tag, der später unter dem Namen »Schwarzer Freitag« in der Wirtschaftsgeschichte der Welt berühmt wurde, stürzte die New Yorker Börse von ihren Spitzenkursen ins Bodenlose und schleuderte Amerika und die Welt in die Tiefen einer wirtschaftlichen Depression, wie man sie bisher noch nie gekannt hatte.
    Vier Monate später, Mitte Januar 1930, klingelte es an der Tür des Appartements im Hotel George V in Paris, wo Loren wohnte.
    »Roxane«, rief er aus dem Bad. »Sieh doch mal nach, wer es ist.«
    Wenige Minuten später kam sie ins Badezimmer. »Ein Telegramm für dich, aus Amerika.«
    »Mach es auf und lies vor. Ich habe nasse Hände.«
    Sie riß den hellblauen Umschlag auf. Ihre Stimme klang ausdruckslos, während sie mit den englischen Wörtern kämpfte.
    LOREN HARDEMAN SEN.
    HOTEL GEORGE V PARIS, FRANKREICH
    HABE AUF DRAENGEN BANK UM VERLUSTE INFOLGE MANGELNDEN VERKAUFS EINZUSCHRAENKEN ERZEUGUNG STILLGELEGT UND EINSTELLUNG

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