Der Codex
geborene zum Lindern von Schmerzen nutzten. Taxol, ein wichtiges Antikrebsmittel, wird ebenfalls aus Baumrinde hergestellt. Cortison wurde aus Dioscorea-Knollen gewo n nen, das Herzmittel Digitalis aus dem Fingerhut, und Pen i cillin aus Schimmel. Tom, dieser Codex könnte die größte medizinische Entdeckung aller Zeiten sein!«
»Ich verstehe, auf was Sie hinauswollen.«
»Wenn Professor Clyve und ich den Codex übersetzen, wird er die Medizin revolutionieren. Und wenn das Sie noch nicht überzeugt, dann habe ich noch etwas anderes auf L a ger. Der mittelamerikanische Regenwald verschwindet u n ter den Sägen der Holzfäller. Dieses Buch wird ihn retten. Der Regenwald wird plötzlich viel mehr wert sein, wenn er erhalten bleibt. Die Pharmakonzerne werden diesen Lä n dern Milliarden an Tantiemen zahlen.«
»Und zweifellos auch einen schönen kleinen Profit ei n streichen. Aber was hat das Buch mit mir zu tun?«
Über den Hobgoblin Rocks stieg nun der Vollmond auf und bemalte die Felsen mit silberner Farbe. Es war ein her r licher Abend.
»Der Codex gehört Ihrem Vater.«
Tom hielt sein Pferd an und warf Sally einen Blick zu.
»Maxwell Broadbent hat ihn vor fast vierzig Jahren aus einer Grabkammer der Mayas gestohlen. Er hat nach Yale geschrieben und um Hilfe bei der Übersetzung gebeten. Aber damals war die Maya-Schrift noch nicht dechiffriert. Der Mann, der den Brief bekam, hielt die Musterseite für eine Fälschung und legte sie in einem alten Aktenordner ab, ohne den Brief zu beantworten. Vierzig Jahre später fiel er Professor Clyve in die Hände. Er wusste sofort, dass er echt ist. Vor vierzig Jahren konnte niemand einen Maya-Text fälschen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil nämlich niemand ihre Schrift lesen konnte. Professor Clyve hat den Text jedoch verstanden: Er ist wirklich der einzige Mensch auf dieser Welt, der die Schrift der Mayas fließend lesen kann. Ich versuche seit Wochen Ihren Vater zu erreichen, aber es sieht so aus, als hätte die Erde ihn verschluckt. Deswegen habe ich mich in meiner Verzweiflung an Ihre Fe r sen geheftet.«
Tom musterte Sally im zunehmenden Zwielicht. Dann lachte er.
»Was ist daran so komisch?«, fragte Sally aufgebracht.
Tom holte tief Luft. »Ich hab schlechte Nachrichten für Sie, Sally.«
Nachdem er ihr alles erzählt hatte, machte sich Schweigen breit.
»Sie nehmen mich auf den Arm«, sagte Sally schließlich.
»Nein.«
»Er hat kein Recht dazu!«
»Ob er's hat oder nicht, jedenfalls hat er es getan.«
»Und was werden Sie dagegen unternehmen?«
Tom seufzte. »Nichts.«
»Nichts? Was soll das heißen, nichts? Sie werden Ihr Erbe doch nicht in den Wind schießen, oder?«
Tom antwortete nicht sofort. Sie hatten nun den oberen Teil des Plateaus erreicht und hielten an, um die Aussicht zu genießen. Die zahllosen zum San Juan River hinabfü h renden Canyons waren wie finstere Fraktale in die vom Mond beschienene Landschaft geätzt. Dahinter sah er die gelbe Zusammenballung der Lichter von Bluff, und am Rand des Ortes ein Konglomerat von Gebäuden, aus denen seine bescheidene veterinärmedizinische Praxis bestand. Links ragten die gewaltigen Steinwirbel des Comb Ridge zum Himmel auf, geisterhafte Gebeine im Mondschein. Sie erinnerten Tom erneut daran, warum er eigentlich hier war. In den Tagen nach dem Schock, als er erfahren hatte, was sein Vater mit ihrem Erbe gemacht hatte, hatte er eines se i ner Lieblingsbücher in die Hand genommen: Platos Rep u blik. Er hatte wieder die Abschnitte gelesen, die sich mit dem Er-Mythos befassten, in denen Odysseus gefragt wu r de, welche Existenz ihm in seinem nächsten Leben am lie b sten sei. Und was wollte der große Odysseus, der Krieger, Liebhaber, Seemann, Forschungsreisende und König sein? Ein anonymer Mensch, der in irgendeinem abgelegenen Winkel lebte, »unbeachtet von den anderen«. Er wollte nur ein einfaches und friedliches Leben führen.
Plato hatte es gutgeheißen. Und Tom ebenso.
Deswegen, fiel ihm ein, war er damals nach Bluff gezogen. Es war unmöglich, bei einem Vater wie Maxwell Broadbent zu leben. Es war ein endloses Drama ständiger Ermahnungen, Herausforderungen, Kritik und Instruktionen. Tom war hierher gekommen, weil er hatte flüchten wollen. Er hatte Frieden finden und alles hinter sich lassen wollen. Den ganzen Mist - und natürlich auch Sarah. Sarah: Sein Vater hatte sogar versucht, Freundinnen für ihn und seine Brüder auszusuchen. Mit katastrophalen Folgen.
Tom warf einen
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