Der Daleth-Effekt
Schatten größer, wuchs zu riesigen Dimensionen an und schien direkt auf die Tribüne zuzustürzen. In der Menge wurden erregte Rufe laut, und jemand stieß einen erstickten Schrei aus.
Die Geschwindigkeit des Schiffes nahm immer weiter ab, bis das große Gebilde sanft wie ein Herbstblatt auf das ruhige Wasser des Inderhavn herabschwebte. Erstaunte Ausrufe wurden da und dort in der Menge laut, als man die wahre Größe des Fahrzeugs sehen konnte. Die riesige schwarzweiße Hülle hatte die Länge eines Ozeandampfers und mußte ein Gewicht von einigen Zehntausend Tonnen haben. Und sie senkte sich langsam, fast schwerelos, herab. Das Gebilde, das hier vor den Tribünen schwebte, hatte etwas Unwirkliches – eine gewaltige Scheibe, einen halben Häuserblock im Durchmesser, oben und unten flach. Nur die Brücke wölbte sich an der Vorderkante hoch. Es hatte keinen sichtbaren Antrieb, und außer der Luft, die pfeifend an seinen Flanken entlangstrich, war kein Geräusch zu hören.
Die Zuschauer verstummten ehrfürchtig, und die schrillen Schreie der Seemöwen waren in der Stille deutlich zu hören. Das große Schiff kam einige Meter über dem Wasser zum Stehen, begann dann unendlich langsam weiter abzusinken und tauchte schließlich sanft ins Wasser. Luken öffneten sich auf den Oberdecks, und einige Männer kamen mit Leinen heraus.
Ein spontanes Jubelgeschrei brach auf den Rängen los, und die Zuschauer sprangen auf, brüllten und klatschten so laut sie konnten, daß von der Kapelle nichts mehr zu hören war. Martha schrie wie alle anderen; in diesen glücklichen Augenblicken war alles andere vergessen.
In großen schwarzen Buchstaben, die sich deutlich von dem weißen Untergrund abhoben, stand der Name des Schiffes an der Flanke – Holger Danske. Der stolzeste Name in Dänemark.
Noch ehe das Schiff ganz vertäut war, wurde eine Passagierrampe herabgelassen. Prominente Würdenträger erwarteten die Offiziere, die jetzt herauskamen. Auch auf diese Entfernung war Nils’ große Gestalt deutlich zu erkennen. Man salutierte, schüttelte sich die Hand und kam zur Tribüne. Nils ging dicht an Martha vorbei und beantwortete ihr Winken mit einem Lächeln.
Jetzt kam der offizielle Teil des Programms – die Verleihung der Preise, eine kurze Rede des Königs, einige längere Reden verschiedener Politiker. Der Premierminister sprach schließlich die offizielle Ankündigung aus.
Die Fernsehkameras versuchten, das bunte Bild einzufangen, und durch die Lautsprecher wurde bekanntgegeben, daß die Gäste nun an Bord gehen dürften, um das Raumschiff zu besichtigen.
»Jetzt werden Sie gleich staunen«, sagte Ove. »Das ist das erste Schiff, das speziell als Raumschiff konstruiert wurde – und wir haben keine Kosten gescheut. Im Grunde ist es zwar ein Frachtschiff, aber das sieht man nicht auf den ersten Blick. Das gesamte Innere besteht aus Laderäumen, und die Maschinenräume befinden sich vorn. Somit steht der gesamte Raum an der Peripherie für Passagierkabinen zur Verfügung, so daß jede Reisekabine mit einem Bullauge ausgerüstet ist. Aber, gehen wir, bevor das Gedränge zu groß wird.«
Der Eingang zum Schiff lag hinter dem Zollgebäude, das normalerweise für die Passagiere der Oslo-Fähre benutzt wurde. Auch heute waren die Zollbeamten im Dienst. Es durften keine Pakete oder Aktentaschen mit an Bord genommen werden. Mit größter Zuvorkommenheit wurden alle Männer gebeten, den Inhalt ihrer Taschen vorzuzeigen, und die Frauen mußten ihre Handtaschen öffnen. Für den Fall, daß es Beschwerden gab, standen einige hohe Polizei- und Armeeoffiziere bereit. In einem Nebenzimmer unterhielten sich ein Admiral und ein General mit einem Minister und einem Botschafter. Offenbar wollte man für alle Fälle gerüstet sein und eine Persönlichkeit von zumindest gleichem Rang zur Verfügung haben, wenn es Schwierigkeiten gab.
Aber dazu kam es nicht. Zwar sah man hier und da einige Leute die Stirn runzeln und den Beamten empörte Blicke zuwerfen, aber der Premierminister gab allen ein Beispiel, indem er seine Taschen nach außen kehrte und den Inhalt seiner Brieftasche vorzeigte. Offensichtlich hatte man die Sache inszeniert – aber es war eben wichtig. Die Sicherheit der Holger Danske mußte unter allen Umständen gewährleistet sein.
Die Menschenschlange rückte langsam vor, und Martha war vor Angst wie gelähmt. Natürlich würde man die Brosche entdecken und sie bloßstellen. Sie konnte sich nirgends verstecken. Es blieb ihr
Weitere Kostenlose Bücher