Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
ich noch mehr alte Konjunktive, so würfe ich sie liebend gerne ins Gespräch ein!«
Mein Freund Henry ist selbstverständlich eine Ausnahmeerscheinung. In der gesprochenen Sprache ist der Konjunktiv fast ausschließlich in der »würde«-Form zu finden: »Ich würde gerne am Freitag kommen« statt »Ich käme gerne am Freitag«. »Man erzählt sich, sie würde in einer Bar arbeiten« statt »Man erzählt sich, sie arbeite in einer Bar«. »Das würde ich dir übel nehmen« statt »Das nähme ich dir übel«.
Einige dieser sonderbar klingenden Konjunktiv-II-Formen leiten sich von alten Imperfektformen ab, die heute völlig verschwunden sind. So sagte man früher »ich warf«, aber »wir wurfen«, und dazu wurde dann der Konjunktiv »würfe« gebildet. Von »heben« gab es einst die Imperfektform »huben«, was die Entstehung des Konjunktivs »hübe« erklärt. Dieser ist freilich lange aus der Mode, üblicherweise sagt man heute »höbe«. Einige Verben haben sich zwei mögliche Formen bewahrt, zum Beispiel »stehen« (stände oder stünde) und »schwimmen« (schwämme und schwömme); bei »stehen« ist die Form mit »ü« die gebräuchlichere, bei »schwimmen« ist es die Form mit »ö«.
Die Verwendung der »würde«-Form ist zwar weit verbreitet, gilt allerdings als umgangssprachlich. Bis auf einige Ausnahmen: Die von Henry so geschätzten veralteten Konjunktiv-II-Formen dürfen standardsprachlich durch eine Konstruktion aus »würde« und Infinitiv ersetzt werden. »Ich würde dir ja helfen, wenn du mich nur ließest« ist erlaubt, da kein Mensch mehr »Ich hülfe dir« sagte. Oder sagen würde. Da haben wir schon gleich die zweite Ausnahme: Wenn der Konjunktiv II mit der Form des Präteritums übereinstimmt (was häufig der Fall ist), ist die Umschreibung mit »würde« zulässig, allein schon, um Missverständnisse zu verhindern. Denn Verständlichkeit ist stets die oberste Maxime, dem hat sich auch der Konjunktiv unterzuordnen. Ein Beispiel: »Da sie sich nie und nimmer für mich interessierte, spielt es keine Rolle, was ich denke.« Um klar zu machen, dass hier nicht die Vergangenheit gemeint ist, sondern eine unwahrscheinliche Möglichkeit, ist es angebracht, sich der Hilfskonstruktion mit »würde« zu bedienen: »Da sie sich nie und nimmer für mich interessieren würde, spielt es keine Rolle, was ich denke.«
»Nichts gegen Würde in der Sprache«, sagt Henry, »aber zu viel würde kann die Sprache verunstalten!« – »Würde man heute all diese Konjunktivformen in der gesprochenen Sprache gebrauchen, würde sich das doch recht seltsam anhören – altmodisch eben, verschroben.« – »Nein«, widerspricht Henry, »wenn alle den Konjunktiv gebrauchten, hörte es sich ganz normal an, weil sich unsere Ohren daran gewöhnten.«
Bei unserem nächsten Treffen gebe ich Henry die überarbeitete Geschichte von Vater und Sohn im Sprachzoo zu lesen. Dort heißt es nun: »Wären Vater und Sohn an diesem Sonntag in den Sprachzoo gegangen, hätten sie sich sehr gewundert. Denn sie hätten den Käfig mit dem Konjunktiv leer vorgefunden. Besorgt hätten sie sich an den Wärter gewandt und ihn gefragt, ob der traurige Konjunktiv womöglich gestorben sei. Doch der Wärter hätte sie beruhigt. Er sei letzte Nacht ausgebrochen, hätte er ihnen berichtet, und laufe nun Amok durch die Stadt. Der Polizei gelinge es nicht, ihn einzufangen, wann immer sie sich ihm nähere, springe er auf und davon. Vater und Sohn hätten sich darüber sehr gefreut und gehofft, dass es ihm gelänge, neue Freunde zu finden, denn dann begönne für ihn ein völlig neues Leben.« – Henry blickt mich kopfschüttelnd an: »Du bist unverbesserlich! Und vollkommen würde -los!«
Papierhaft oder papieren?
Frage einer Leserin: In unserem Geschäft wird viel von papierhaften Dokumenten geredet und geschrieben. Ich möchte gerne wissen, ob es dieses Wort überhaupt gibt. Wenn es das nicht gibt, wie würde man den Unterschied zum elektronischen Dokument nennen?
Antwort des Zwiebelfischs: Das Wort »papierhaft« hört sich stark nach einer künstlichen Zusammensetzung an, die einem bürokratischen Hirn entsprungen ist. Die bei der Bildung von Adjektiven verwendete abstrakte Endsilbe »-haft« steht hinter abstrakten Begriffen, also Dingen, die man nicht sehen oder anfassen, wohl aber fühlen oder sich vorstellen kann:
beispielhaft, dauerhaft, ekelhaft, fabelhaft, geisterhaft, glaubhaft, krankhaft, lebhaft, massenhaft, rätselhaft, sagenhaft,
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