Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
den Ritter um den Finger zu wickeln, doch noch schienen ihr die passenden Worte zu fehlen. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, brachte aber keinen Ton heraus.
»Halt’s Maul, ich will endlich schlafen«, brummte da Herr Arthen und drehte sich auf die andere Seite.
»Schon gut.« Der weiße Ritter senkte die Stimme zu einem Flüstern und näherte sich dem Käfig so weit, dass sein Gesicht nur noch eine Handbreit entfernt war. Aus seinem Mund roch es säuerlich nach Wein. »Wir haben euch erwischt, bevor die weißen Drachen es getan haben. Wir waren schneller als die Hunde Hellwahs, die hinter euch her sind. Nicht viele Ritter können das von sich behaupten. Wir sind Helden.«
Endlich zeigte sich ein Lächeln auf Nicas Lippen.
Viel zu früh, dachte Ben. Herr Arthen war noch wach – den weißen Ritter jetzt zu überwältigen, würde ihnen gar nichts nützen. Sie mussten ihn noch eine Weile hinhalten.
»Ja, das freut dich, was?« Der Ritter zeigte ein breites Grinsen, das offenbarte, dass ihm zwei Schneidezähne fehlten und
ein dritter nur noch ein brauner Stumpen war. »Alle Mädchen sind ganz wild auf Helden. Plötzlich sind all die Narben nicht mehr abstoßend, und auch ein hässlicher Mann wird angesehen.«
Ben fragte sich, ob er von diesem Unsinn tatsächlich überzeugt war, davon, dass Frauen jene als Helden verehrten, die sie in einen Käfig sperrten. Ob dieser Ritter wirklich nicht bemerkte, dass Nicas Lächeln nicht mit seinen Taten zusammenhing? Wie viel Aufrichtigkeit und Zuneigung erwartete er von einer Gefangenen?
Natürlich konnte man Menschen einschüchtern, bis sie eine kriecherische falsche Freundlichkeit an den Tag legten. Aber über eine derartig erzwungene Bewunderung konnte sich doch nur ein erbärmlicher, würdeloser Wurm freuen, kein Mann, der die Bezeichnung Held verdient hatte.
Yanko ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass er beinahe schrie und seine Zähne deutlich vernehmbar knirschten.
Nica senkte den Kopf, als wäre sie scheu und verlegen, und Ben bemühte sich um einen ängstlich bewundernden Gesichtsausdruck, auch wenn er nur Abscheu vor diesem Ritter empfand. Und dann wurde ihm bewusst, was der eben gesagt hatte: Die Hunde Hellwahs waren hinter ihnen her. Und obwohl sie bereits in den Händen des Ordens waren, überrollte Ben eine weitere Welle der Furcht.
Von diesen weißen Drachen hatte Priester Habemaas in Trollfurt stets mit Ehrfurcht erzählt. Sie galten als niemals ermüdende Jäger, die das Herz des größten Kriegers mit einem einzigen Hauch zu Eis verwandeln konnten, so dass es bei der nächsten Erschütterung in tausend Teile zersplitterte. Sie mussten ihm nun nur noch einmal gegen die Brust tippen, und der Ritter fiel. Selbst ein kleiner Junge konnte diesen
Krieger nun mit einer geschleuderten Kastanie niederstrecken. Diese Drachen hatten über die Jahrhunderte die schrecklichsten Feinde des Ordens aufgespürt, und Ben erinnerte sich noch an die brennende Bewunderung, die er im Alter von acht oder zehn Jahren und auch noch später für ihre Stärke und Macht empfunden hatte. Für ihren unfehlbaren Geruchssinn und ihre unermüdliche Ausdauer, denn niemals gaben sie eine einmal aufgenommene Fährte verloren.
Vor allem erinnerte er sich an eine Legende über einen blutsaufenden und kinderfressenden Ketzer, dessen Namen Ben längst vergessen hatte. Dieser hatte nach zahlreichen lasterhaften Taten das Großtirdische Reich verlassen, um andernorts sein Unwesen zu treiben. Er überquerte Grenzen, Flüsse und auch ein Meer. Nie wurde er sesshaft, denn er wusste, der Orden hatte ihm einen Verfolger hinterhergeschickt, den er nicht besiegen konnte. Allerdings prahlte er nach jeder weiteren Untat, man könne ihm sehr wohl entkommen, wäre man nur schnell und schlau genug. Und er sei schnell und schlau genug. So zogen die Jahre ins Land, und der Ketzer wurde älter und gebrechlicher, doch der weiße Drache folgte stur seiner Fährte, ohne zu ermüden. Schließlich fand er den Ketzer auf seinem Sterbebett in einem fernen Land, und all sein Hochmut war von ihm gewichen. Als der Ketzer den Drachen mit erlöschenden Augen sah, erbleichte er, denn er wusste nun, dass Hellwah wahrlich keine Schandtat ungesühnt ließ. Und mit einem kalten Hauch aus seinen Nüstern gefror der Drache ihn zu einer Skulptur aus niemals schmelzendem Eis. Selbst die Seele des Ketzers wurde vom Atem des Drachen gebannt und konnte sich nicht lösen. Wie feiner, glitzernder Dunst hing sie über dem zu
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