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Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten

Titel: Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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leise Klagen?«
    »Ja. Was ist das?«
    »Ein sterbender Drache.«
    »Was?« Vor Überraschung hätte Ben beinahe schon wieder losgelassen und wäre doch noch in die Tiefe gestürzt.
    »Nun muss dein Schwur doch warten«, sagte Aiphyron und änderte den Kurs.
    »Aber...«
    »Hör zu. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten, nicht ein einziges Mal. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe. Kaedymia braucht sie.«
    »Wer ist Kaedymia?«
    »Der sterbende Drache.«
    »Du kannst riechen, welcher Drache das ist? Verdammt, wie gut ist deine Nase?«

    »Kaedymia ist der einzige Drache, den man im Wind riechen kann.«
    »Warum?«
    »Weil er im Wind geboren wurde«, erklärte Aiphyron. »Er wuchs in einem Felsen heran, hoch auf dem Gipfel eines einsamen Bergs weit im Süden, der von den Menschen dort Himmelsklippe genannt wird. Es ist ein Berg, um dessen zerklüfteten Gipfel zahlreiche Winde toben und dessen Nordseite über mehrere Tausend Schritt steil abfällt. Es sieht aus, als wäre der Berg hier von einer riesigen Axt gespalten worden und die andere Hälfte verschwunden, besser gesagt: als zerschmettertes Geröll über die angrenzende Ebene verteilt worden. Dort oben, am höchsten Punkt, wuchs er heran, die Winde schabten über die Jahre langsam den Stein von seinen Schuppen, und dann, just in dem Moment, in dem er aus dem Fels schlüpfen wollte, stieß ihn eine plötzliche Böe über den Klippenrand und in die Tiefe. Wäre das eine Minute früher geschehen, wäre er auf dem Boden zerschellt und Kaedymia wäre aus Schmerz und Gesteinssplittern geboren worden. Doch nun wurde er im Flug geboren, mitten in den Winden, welche die Himmelsklippe stets umwehten. Er breitete die Flügel aus und flog, noch bevor er seinen ersten richtigen Gedanken fassen konnte. Unter uns Drachen ist er der einzige Windgeborene, und so wie die Winde ihre Spuren in ihm hinterlassen haben, hat er seine in ihnen hinterlassen. Er ist ein Teil von ihnen, und wenn er stirbt, wird der Geruch nach Verfall und Tod über Jahre hinweg mit jedem Sturm über das Land wehen, jeder Frühlingstag wird nach Herbst riechen.«
    »Aber warum stirbt er?«, fragte Ben. »Ist er alt oder krank?« An den Orden dachte er nicht, der Orden tötete nicht.

    »Ja, er ist alt. Sehr alt. Aber deshalb stirbt er nicht.« Aiphyron schnupperte hektisch in der Luft und schlug immer schneller mit den Flügeln. Sie rasten dahin, Bens Augen tränten, mit solcher Wucht schlug ihm der Wind ins Gesicht. Schweigend klammerte er sich fest und hoffte, dass es nicht mehr allzu weit sei.
     
    Schließlich setzte Aiphyron zur Landung an. Bens Knie und Ellbogen waren steif vom Flug, seine Augen verklebt und die Finger klamm vom Festkrallen. Die Luft hier schmeckte grundsätzlich frisch und salzig, doch von unten stieg der Geruch nach Verfall zu ihnen auf, wie auch ein schwerer, süßlicher Duft. Ein fernes Schnattern, Quaken und Glucksen drang in Bens Ohren.
    Er öffnete die Augen und erblickte zuerst das Meer. Die Küste lag nur noch wenige Meilen von ihnen entfernt, dahinter erstreckte sich die glitzernde Wasserfläche bis zum Horizont. Weiße Linien aus Wellenschaum liefen langsam auf den Strand zu. Noch nie hatte Ben das Meer gesehen, und er erstarrte angesichts seiner Schönheit.
    »Das ist...«, setzte er an, doch dann schwenkte Aiphyron ab und ging tiefer. Direkt unter ihnen lag ein breites, sumpfiges Flussdelta, das fast überall mit wuchernden krummen Bäumen bewachsen war, die kopfgroße rot-weiß marmorierte Blüten trugen. Mit angelegten Flügeln tauchte er hinab auf einen Flecken aus fester Erde, der sich wie eine Insel mitten im Morast erhob. Schlick spritzte auf, als er hart auf dem Boden landete.
    Im dichten Sumpfgras vor ihnen krümmte sich ein Drache mit weißgrauen Schuppen, die mit zahlreichen rötlichen und grünen Einsprengseln verziert waren und von kristallin
blauen Adern durchzogen. Sein Körper war kaum größer als ein ausgewachsener Mann, rechnete man den ebenso langen Schwanz nicht hinzu; nach Aiphyrons Worten hatte er ihn sich größer vorgestellt. Dennoch, und obwohl er nur schwach atmete, ging eine spürbare Würde von ihm aus.
    Hier unten herrschte vollkommene Windstille, und doch schien ein ständiges Wispern durch die hochgewachsenen Halme zu laufen.
    »Aiphyron«, murmelte der Drache und blinzelte mit trüben, gelblichen Augen. Der Schatten eines Lächelns huschte über seine lippenlosen Züge, dann wurde es von einem rasselnden Husten weggefegt. Seine Brust war mit

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