Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
nicht aufzufallen. Sicher war sicher.
Während der chybhischen Spiele wurden Streitigkeiten und Fehden in Hellwahs Namen zurückgestellt, erinnerte sich Ben. Sie wurden in den Wettkämpfen ausgetragen. Innerhalb der Stadtmauern und einer Bannmeile um sie her durfte kein Blut vergossen werden, auch fanden in diesen Tagen keine Hinrichtungen statt. Ihm würde schon nichts geschehen. Er warf einen kurzen Blick in den Himmel, doch noch war es zu diesig und lange nicht hell genug, als dass er Aiphyron entdecken konnte, nicht einmal als verschwommenen dunklen Punkt.
Vereinzelte Nebelschleier krochen wie ausgefranste geisterhafte Riesenwürmer über das Land. Die ersten Vögel hatten zu singen begonnen, doch ansonsten lag die Welt noch im Schlaf.
Da durchbrach ein dumpfer Schlag vor ihm die Stille des Morgens, und Ben zuckte zusammen. Was war das? Der Ton schien sich für einen Moment im Nebel zu verfangen, bevor er endgültig verwehte. Es klang unheimlich.
Gedämpfte Rufe waren zu vernehmen, doch Ben verstand kein Wort. Dann ein zweiter Schlag, dem weitere folgten. Regelmäßig, als würde jemand hämmern.
Hektisch sah sich Ben in alle Richtungen um, konnte jedoch die Quelle der Schläge nicht ausmachen. Aufs Höchste angespannt ging er weiter, sein Herz schlug schneller. Wütend befahl er sich, sich zusammenzureißen. Wahrscheinlich reparierte irgendein freundlicher Bauer seinen Weidezaun, oder die Straße wurde ausgebessert, damit die Stadt einen
guten Eindruck auf die zahlreichen Besucher machte. Hammerschläge waren weder unheimlich noch gefährlich, auch nicht in Dämmerung und Nebel. Und niemand würde dort vorn ihren Steckbrief an einen Baum nageln. Er durfte nicht so schreckhaft sein!
Nach einer Weile sah er eine mit schwarzer Erde aufgeschüttete Terrasse links im Nebel auftauchen, vielleicht zehn Schritt im Geviert groß und drei Schritt hoch. Zwei kräftige Männer knieten dort und hämmerten auf etwas am Boden ein. Dann legten sie ihre Werkzeuge zur Seite und richteten mit einem dritten, der neben ihnen gestanden hatte, einen gut zwei Mann hohen Balken auf. Als sie ihn ein Stück weit in einem Loch versenkten und um die eigene Achse drehten, um ihn passend auszurichten, erkannte Ben, dass oben ein kürzerer, verstärkter Querstreben saß, von dem ein Strick herabhing.
Ein Galgen.
»Noch ein Stück zu mir«, befahl der dritte Mann, dann rief er: »Stopp.«
Schwungvoll schlug er irgendwelche Stützhölzer am Galgen fest, bevor sie das Loch mit dunkler Erde füllten und festklopften.
Nur nicht auffallen, dachte Ben und zwang sich weiterzulaufen. Dabei warf er immer nur kurze Blicke hinüber. Die Männer beachteten ihn nicht.
Am Fuß der Terrasse stapelten sich noch mehr Balken. Unauffällig versuchte Ben, sie zu zählen, doch er kam immer wieder durcheinander. Sieben oder acht weitere Galgen ließen sich mit dem Material aber bestimmt errichten. Auf dem obersten Balken saß ein aufgeplusterter Nachtadler und ließ sich von den lauten Hammerschlägen nicht vertreiben. Mit
durchdringenden fahlen Augen stierte er Ben an. Sein scharfer Schnabel öffnete sich, und er ließ ein lautes Krächzen vernehmen, das in Bens Ohren wie ein böses Lachen klang. Er musste an die Galgen vor Vierzinnen denken.
Keine Hinrichtungen während der Spiele, so war die Tradition, dachte er verzweifelt, als das Hämmern hinter ihm wieder einsetzte und der Adler noch einmal sein dunkles Krächzen hören ließ. Was geschah hier?
Rechts am Wegrand erschien ein weißer, steinerner Pfeiler, in den schwungvolle Buchstaben eingraviert waren.
Chybhia
Stadt der heiligen Spiele
Eine Meile
Ben verstand, sein Mund wurde trotz des Nebels trocken. Der Galgen wurde außerhalb der Bannmeile angelegt, dann schadete er nicht der Tradition. Und eine Meile war schnell zurückgelegt, wenn man Blut vergießen wollte. Anscheinend schenkte das Verbot von Hinrichtungen während der Spiele nicht jedem Schutz.
Kurz dachte Ben daran, umzukehren, aber er durfte nicht. Er durfte sich nicht so leicht einschüchtern lassen, dieser Strick galt nicht ihm. Außerdem hatte er es geschworen. Niemand würde ihn erkennen, sagte er sich zum hundertsten Mal, niemand. Er trug keine verräterische Tätowierung wie ein Ketzer. Und Aiphyron kreiste über ihm. Auch wenn er ihn nicht sehen konnte, so war der Drache doch da. Entschlossen stapfte Ben weiter. Er würde seiner Angst nicht nachgeben, niemals.
Als er das offene Stadttor erreichte, hatte sich die Sonne
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