Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
unglaublich langen Armen und einem zu drei Zöpfen geflochtenem Bart zu, bis dieser seinem Gegner ein Stück vom Ohr abbiss. Noch während sich Ben darüber wunderte, sprangen die Leute neben ihm grölend auf die Sitze, und er konnte nichts mehr sehen. Also stand er selbst auch auf und reckte den Hals, versuchte, zwischen dem wogenden Meer aus Köpfen und Schultern vor ihm etwas zu erkennen. Er sah gerade noch, wie sein Held am Bart gepackt wurde und der Gegner dessen hageres Gesicht gegen sein Knie schmetterte. Der Bärtige ging zu Boden und wurde mit Fußtritten eingedeckt, bis er den Arm mit gespreizten Fingern in die Höhe reckte, dem Zeichen, dass er sich geschlagen gab.
»Steh auf, du stinkendes Furunkel!«, brüllte eine dunkelblonde Frau mit sich überschlagender Stimme in der Reihe vor Ben, während sich ihr Nachbar grinsend die Hände rieb. Es sah aus, als hätten die beiden um einen hohen Betrag gewettet.
Höhnische Rufe begleiteten den Verlierer, während er auf einer Bahre aus dem Stadion getragen wurde. Der Sieger nahm seinen Applaus mit einem schmerzhaften Grinsen entgegen und hielt sich das tropfende Ohr. Morgen würde er zur zweiten Runde antreten.
Ben hatte fürs Erste genug, inzwischen war es auch lange nach Mittag, bestimmt drei oder gar vier Uhr, dem Stand der Sonne nach zu urteilen. Morgen würde er sich weitere Wettkämpfe
ansehen, nicht nur die Jagd im Reinen Bach, denn der Sieger würde sicherlich nicht direkt nach dem Wettkampf die Stadt verlassen. Und Ben musste bleiben, bis er sich mit dem erkämpften Drachen auf den Heimweg machte.
Hoffentlich kam er nicht von hier – dann könnten er und Aiphyron lange warten. Doch jetzt wollte er sich erst noch ein wenig Chybhia ansehen, bevor er sich nach Sonnenuntergang wieder abholen ließ. Chybhia und vor allem Norkhams Drachen. Vielleicht durfte man ja einen Blick auf ihn werfen?
Weil Ben das für eine unverfängliche Frage hielt, stellte er sie dem jungen Mann mit dem hochroten Kopf neben sich, der erst vor kurzem bemerkt hatte, dass seine Begleiterin weg war und gemurmelt hatte: »Wird schon wiederkommen. Weiß ja, wo sie mich findet.«
»Der Drache?«, antwortete der Rotgesichtige, ohne Ben anzusehen, nachdem er die Frage dreimal wiederholt hatte. »Welcher...? Ach ja, dieser Drache. Bestimmt befindet er sich in den Ställen an der Südseite des Stadions. Dort werden auch die Drachen der Athleten untergebracht, die Pferde für das Wagenrennen und alle anderen Tiere. Nur die Fische nicht.«
»Fische?«, rutschte es Ben heraus, bevor er daran dachte, dass er ja möglichst wenig Fragen stellen wollte.
»Für die Wasserspiele.«
»Ja, klar. Danke.« Verwirrt schob sich Ben zwischen den drängenden Leuten hindurch und stibitzte sich noch einen knusprig gerösteten Zuckermolch vom Bauchladen eines Händlers, der verbissen in die Arena starrte und auf nichts anderes achtete.
Noch immer strömten Menschen ins Stadion, Ben schien der Einzige zu sein, der es gerade verließ. Den durcheinanderhuschenden
Bemerkungen der Umstehenden entnahm er, dass der Faustkämpfer von Chybhia in wenigen Minuten antreten würde, und die Einheimischen wurden sichtlich immer unruhiger. Dieser Kampf wird mir freie Straßen bescheren, dachte Ben. Und so war es.
Kurz verharrte er am Ewigen Felsen vor dem Eingang, dessen Wände geschliffen und mit zahllosen Namen einstiger Sieger übersät waren. Dann hielt er sich rechts, schlenderte langsam am Stadion entlang und lauschte auf das Toben der Menge, während ihm all die Eindrücke von den Wettkämpfen im Kopf umgingen. Voll Bewunderung betrachtete er die drei übereinander errichteten Bogenreihen aus poliertem weißen Kalkstein, die die Außenwand des imposanten Bauwerks bildeten. Mit den Fingerspitzen strich er prüfend darüber und fragte sich, wie die Baumeister den Kalkstein derart glatt schleifen konnten, beinahe so glatt wie die Oberfläche von gegossenem Metall.
Eine Magd mit verheulten Augen und halb gelöstem Haar kam ihm mit verschränkten Armen entgegen, und in einer schmalen Seitengasse erhaschte er einen kurzen Blick auf einen Jungen, der mit einem sorgfältig entrindeten Ast gegen einen unsichtbaren Gegner focht oder gar gegen eine unsichtbare Übermacht. Vor Ben eilte ein verschwitzter, keuchender Stallknecht mit einem Netz bleicher Wasserrüben im Arm quer über die Straße, doch dann war diese tatsächlich verlassen, sah man von einem streunenden Hund an einem Ende und zwei jungen Katzen am anderen
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