Der Duft des Blutes
hatte zu arbeiten, ich war sauer auf Jens, es stürmte und war kalt. Er hat mich gar nicht erst gefragt, ob ich mitkomme -und wenn er es getan hätte, hätte ich Nein gesagt."
„Hat das Meer sich Ihren Vater geholt?"
„Er hatte einen Herzinfarkt. Er hing noch über dem Steuer, als die Männer der Küstenwache auf die führerlose Yacht aufmerksam wurden."
„Hätten Sie ihn retten können, wenn Sie dabei gewesen wären?"
Sabine seufzte tief. „Ich weiß es nicht -vermutlich nicht."
Sie kamen an zwei schwarzen Steinquadern vorbei, zwischen denen im Boden eine Gedenkplatte eingelassen war. Ein schmaler Weg führte auf eine Wiese mit kleinen, rechteckigen Gräbern.
„Diese Menschen hat sich auch das Meer geholt", sagte Peter von Borgo und deutete in Richtung der hinter der Wiese aufragenden Tannen. „In einer kalten Februarnacht, nachdem der Sturm in kaum gekannter Stärke zwei Tage lang gewütet hatte, brachen die Deiche."
„1962 war das, nicht wahr?", fragte Sabine und strich mit der Hand über den glatten Polder. Schaudernd zuckte sie zurück, denn es war ihr, als höre sie die Schreie der Ertrinkenden. Der Wind zerrte an ihrem Haar, der Sturm heulte durch die Gassen. Immer höher stieg die Flut und trieb die Menschen auf die Dächer ihrer Häuser. Straßen und Autos versanken unter gurgelnden Wassermassen. Ein paar Jollen schaukelten kieloben in dem aufgewühlten Strom, der zum Meer wurde. Peter von Borgo führte Sabine weiter, die Eindrücke der Sturmnacht verblassten.
„Sehen Sie hier unter den Bäumen, ganz versteckt, die verwitterten Kreuze? Das waren die ersten der mehr als achttausend Opfer der großen Choleraepidemie, die über die Stadt hereinbrach, weil die edle Bürgerschaft im Rathaus entschied, dass es zu teuer sei, Trinkwasser aus der Elbe zu filtern."
Sabine konnte in der Dunkelheit nichts erkennen, dennoch schreckte sie zurück. Wie nasse, klamme Finger griffen die fremden Erinnerungen nach ihr. Der beißende Gestank von Chlorkalk drang ihr in die Nase. Ein Fuhrwerk, beladen mit weiß umhüllten Leibern, ratterte an ihr vorüber. Menschen weinten. Eine Mutter klagte um ihre verlorenen Kinder. Zwei Büttel mit weißen Tüchern vor Mund und Nase drängten sich in den engen Hinterhof und zogen einer Mutter das Kind vom Busen, ohne auf ihr Wehgeschrei zu achten. Der Tod grinste aus den eingefallenen Augenhöhlen des Kindes. Mit einem Aufschrei umklammerte Sabine den Mann an ihrer Seite.
„Was passiert hier? Wie kann so etwas sein? Ich kann sie sehen und hören und riechen!", rief sie panisch und umklammerte Peter von Borgo noch fester. „Ich glaube, ich werde verrückt! Helfen Sie mir, oh bitte, helfen Sie mir!"
Er spürte ihr Herz schlagen und das Blut in ihren Adern pulsieren, so eng drückte sie sich an ihn. Ihr Duft mischte sich mit dem Dunst ihrer Angst zu einer berauschenden Woge, die ihn mit sich riss. Er wischte die Erinnerungen an diese Tragödie im Jahre 1892 beiseite und schlang seine Arme um die junge Frau. Rötlicher Nebel waberte vor seinen Augen, als die spitzen Eckzähne in wilder Macht unter seiner Oberlippe hervorstießen.
War der Zeitpunkt gekommen? Sollte es hier geschehen, unter den ausladenden Blutbuchen, im Schatten der alten Tannen? Er presste sein Gesicht an ihre weiche Wange. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Ihr Kopf fiel nach vorn und vergrub sich in seiner Brust. Die nadelspitzen Zähne schwebten über ihrem Nacken und ritzten die Haut, als sie erbebte. Ein Blutstropfen quoll aus dem winzigen Stich. Der Vampir zögerte, dann streckte er die Zunge vor und leckte den Tropfen ab.
Selbst in seinen kühnsten Träumen hatte er sich nicht vorstellen können, welch überwältigenden Sinnesrausch dieser Geschmack in ihm auslösen würde. Es war, als würde ein Feuerwerk in seinem Körper abgebrannt. Der Vampir warf den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund zu einem Schrei, der nur in seinen eigenen Ohren widerhallte.
Nein, es durfte in dieser Nacht noch nicht zu Ende gehen, er würde verzweifeln, wenn er sie jetzt schon verlieren sollte. Seine letzte Beherrschung zusammennehmend, presste er die Lippen fest aufeinander und stieß die junge Frau von sich. Fast wäre sie gefallen, doch sie fing sich wieder und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an, verwirrt und verletzt.
„Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause", sagte er rau und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er dirigierte sie die schmalen Wege entlang bis zur Straße, half ihr, über das Gitter
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