Der Duft von Orangen (German Edition)
Arbeitsplatz entfernt gewohnt, weil es mir entweder gesetzlich nicht erlaubt gewesen war oder ich zu viel Angst hatte, längere Strecken allein mit dem Auto zu fahren. Ich hatte mein Leben damit zugebracht, mich mit den Nachwirkungen dieses einen kurzen Augenblicks auf dem Spielplatz auseinanderzusetzen. Doch jetzt kam ich endlich in den Genuss des Gefühls der Freiheit, die all meine Freunde seit ihrer Kindheit erlebt hatten.
Ich hatte höllische Angst, sie wieder zu verlieren.
Ich wusste, ich hätte meine Hausärztin Dr. Gordon anrufenund ihr erzählen müssen, was passiert war. Sie kannte mich seit meiner Kindheit. Ich vertraute ihr vollkommen und hatte mich mit allen Problemen immer an sie gewandt – von den Fragen über meine erste Periode bis zu den ersten Vorstößen in Richtung Verhütungsmittel. Aber hierüber konnte ich nicht mit ihr sprechen. Sie wäre verpflichtet, zu melden, dass mir möglicherweise ein epileptischer Anfall bevorstand, und dann? Ich müsste meinen Führerschein wieder abgeben, und das wollte ich nicht. Konnte ich nicht.
Ich rief allerdings meine Mom an. Auch wenn ich erst am Vortag mit ihr gesprochen hatte und obwohl ich so froh gewesen war, aus meinem Elternhaus auszuziehen, war sie immer noch der erste Mensch, an den ich mich in solchen Situationen wandte. Das Telefon klingelte und klingelte, dann ging der Anrufbeantworter an. Ich hinterließ keine Nachricht. Das würde meine Mutter nur unnötig beunruhigen. Außerdem würde sie sich nach ihrer Rückkehr vermutlich sowieso die Anruferliste anschauen, meine Nummer entdecken und sich melden. Ich fragte mich trotzdem, wo sie wohl war – an einem Sonntagmorgen. Sie verließ sonntags nur selten das Haus. Ich schlief gerne aus. Meine Mom liebte es, zu backen und im Garten zu arbeiten und im Fernsehen alte Filme anzuschauen, während mein Vater in der Garage herumwerkelte.
Ich hatte so viele Stunden damit verbracht, von einem Tag wie diesem zu träumen – in meinem eigenen Bett, meinem eigenen Haus aufzuwachen. Ganz allein. Keine Pläne für den Tag und niemanden, dem ich Rechenschaft schuldig war. Nichts tun müssen außer Wäschewaschen – in meiner eigenen Maschine mit meinem eigenen Waschpulver. Selbst entscheiden, ob ich sie zusammenfaltete oder sie einfach im Korb liegen ließ. Ich hatte davon geträumt, erwachsen zu sein, alleine zu leben. Und jetzt, wo ich das erreicht hatte, fühlte ich mich unerträglich einsam.
Das Mocha würde dagegen helfen. Dort war ich Teil einer Gemeinschaft, hatte Freunde. Jen und ich hatten nicht explizit verabredet, uns dort zu treffen, aber ich wusste, eine kurze SMS würde mir verraten, ob sie hinginge oder nicht. Und wennnicht, konnte ich meinen Laptop mitnehmen und mich mit einem Becher Kaffee oder Tee und einem Muffin häuslich niederlassen. Ich könnte ein wenig auf Connex, dem sozialen Netzwerk, herumspielen oder mit Freunden chatten, die ebenfalls online waren.
Oh. Und ich könnte ein wenig, quasi nebenbei und vollkommen unauffällig, Johnny Dellasandro stalken.
Per SMS verabredete ich mich mit Jen. Wir würden uns in einer halben Stunde treffen, was mir noch genügend Zeit ließ, kurz zu duschen, mich anzuziehen und zum Coffeeshop zu gehen – eingerechnet schon die Zeit, die ich brauchte, um meine Beine zu rasieren, meine Augenbrauen zu zupfen und mir zu überlegen, was ich anziehen sollte. Denn ja, das war mir wichtig …
„Hey, Süße! Hallo!“ Bei Jens Begrüßung musste ich lachen. Sie winkte mir quer durch den Raum zu. „Ich habe dir einen Platz reserviert. Wieso hat das so lange gedauert? Hast du keinen Parkplatz gefunden?“
„Oh nein, ich bin gelaufen.“ Meine Zähne klapperten immer noch. Der Januar in Harrisburg ist zwar nicht mit dem am Polarkreis zu vergleichen, aber es ist trotzdem so kalt, dass ein Eisbär sich die Eier abfrieren würde.
„Was? Warum? Ach, ich weiß, die Schneepflüge.“
Als wäre die Parksituation in meiner Straße nicht schon schlimm genug, wurde es richtig gemein, wenn der Schneepflug kam und den Schnee auf die Autos blies, sodass man sie mühselig freischippen musste. Aber das war nicht der Grund, warum ich gelaufen war. Ich schlüpfte aus meinem Mantel und hing ihn über die Lehne meines Stuhls. Dabei versuchte ich, mich unauffällig nach dem leckeren, göttlichen Johnny Dellasandro umzusehen. „Nein, daran lag es nicht. Mir war einfach nach Laufen zumute.“
„Ich habe gehört, dass manche Leute kalt duschen, aber was du da machst, ist
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