Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
dachte ich an das Kind, das ich verloren hatte.
» Mögen Sie Katzen?«, fragte der Junge, und ich bejahte seine Frage. Dann drehte ich mich um und ging weg.
EINUNDZWANZIG
V ielleicht, hatte Manon gesagt, vielleicht war Etienne hier in Marrakesch.
Ich überquerte den Färberplatz, ging durch die Straße der Holzhandwerker und die Schneidergasse. Erst jetzt begriff ich, dass ich mich auf meiner Suche nach der Sharia Zitoun ein paar Mal im Kreis gedreht hatte. Ich erkannte einige Ecken wieder, an denen ich vorbeigekommen war, ein paar Tore anhand ihres verschiedenfarbigen Anstrichs und hie und da einen Rundbogen. Auf eine Mauer war eine blaue Hand gemalt. Etwas weiter erblickte ich ein kanariengelbes Symbol. Auch die Geräusche der Souks prägte ich mir ein, um am nächsten Tag den Weg zur Sharia Zitoun besser zu finden. Schließlich sah ich wieder die Spitze des Minaretts der Koutoubia-Moschee – Jamur genannt –, die mir den Weg zum Djemma el Fna wies.
Ich war wie benommen: Ich hatte Manon gefunden. Zwar wusste ich immer noch nicht genau, wo sich Etienne aufhielt, aber morgen, so sagte ich mir, würde ich sie wieder besuchen und vielleicht mehr erfahren. Ich würde es nicht hinnehmen, dass sie ein zweites Mal meinen Fragen auswich.
Während ich die Medina verließ und in Richtung Hotel ging, musterte ich jeden Europäer, der mir entgegenkam. Nach meiner Begegnung mit Manon hatte ich das Gefühl, Etiennes Gegenwart in der Stadt förmlich zu spüren. Ich hielt Ausschau nach seinem vertrauten Gang, seinen breiten Schultern. Erschöpft kam ich im Hôtel de la Palmeraie an. Ich ging auf mein Zimmer und bestellte mir ein leichtes Abendessen, das ich kaum anrührte. In der Hoffnung, gleich einzuschlafen, legte ich mich früh ins Bett, aber wie nicht anders zu erwarten, wälzte ich mich in dem heißen Zimmer die ganze Nacht ruhelos hin und her.
Der Morgen zog sich endlos dahin. Ich verließ das Hotel viel zu früh und befand mich um die Mittagszeit schon auf dem Djemma el Fna.
Wieder mied ich das Gedränge in der Mitte und ging stattdessen am Rand entlang. Dabei vernahm ich einen seltsamen Gesang, und plötzlich stand ich vor einem guten Dutzend Männern, die in einer Reihe auf dem Boden saßen und sich mit dem Oberkörper gleichzeitig vor und zurück wiegten. Alle waren alt und in Lumpen gehüllt, blind und die meisten zahnlos. Manche hatten leere Augenhöhlen, bei anderen wiederum erkannte man an den trüben Augen, dass sie blind waren. Mit ihrem Gehstock klopften sie den Takt zu ihrem Gesang. Offensichtlich verdienten diese Männer ihren Unterhalt mit Singen, so wie der Schreiber, indem er für andere Menschen Briefe schrieb, und der Geschichtenerzähler, indem er sein Wissen mit anderen teilte.
Als der Gesang endete, trat ein Marokkaner zu dem Blinden, der ganz außen in der Reihe saß, und drückte ihm eine Münze in die Hand. Der Blinde hob sie an die Lippen und biss hinein, ehe er etwas auf Arabisch zu dem Mann sagte – gewiss einen Segen, denn ich erkannte das Wort Allah. Dann reichte er die Münze seinem Nachbarn, der ebenfalls hineinbiss, bis sie beim letzten Mann der Reihe ankam, der sie in einen Beutel steckte, den er um den Hals trug.
Dann sangen die Männer ein anderes Lied, woraufhin weitere Zuhörer eine Münze spendeten, um ebenfalls von den Blinden gesegnet zu werden. Die Gesichter der alten Männer waren faltig und vernarbt, und ihre weiten Gewänder vermochten ihre mageren Glieder nicht zu verbergen. Unwillkürlich kam mir der Prunk des Hotels in den Sinn, in dem ich wohnte, und verglich ihn mit der Armut dieser blinden Männer. Meine Gedanken wanderten zu Etienne, der sich irgendwo in dieser Stadt aufhielt. Wie er wohl die Marokkaner behandelte? Schließlich war auch er ein Eindringling in diesem Land und damit auf der Seite der Mächtigen.
So wie ich. Plötzlich empfand ich Scham und fischte einen Sou aus meiner Tasche, um ihn dem ersten Mann in der Reihe in die Hand zu drücken. Seine Finger schlossen sich um das Geldstück, während seine andere Hand meine ergriff und sie tastend erkundete – den Handballen, die Finger, die Nägel. Er nickte. Seine Finger waren hart, die Nägel gelb und lang mit ausgeprägten Rillen. Dann ließ er meine Hand los und murmelte auch für mich einen Segen.
Schließlich sagte er: » Merci, Madame«, und ich antwortete: » De rien«, nichts für ungut.
Plötzlich fügte er in überraschend gutem Französisch hinzu: » Die marokkanischen Frauen würden uns
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