Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
durch ein Gewirr enger Gassen, die ich bislang noch nicht erkundet hatte.
Als wir durch einen überdachten Souk kamen und dann einen Torbogen in der Stadtmauer passierten, spürte ich sofort, dass in diesem Viertel eine andere Atmosphäre herrschte. Die Menschen waren etwas anders gekleidet als in der restlichen Medina; einige der Frauen trugen zwar Kopftücher, aber keine Gesichtsschleier. Die Gebäude waren höher und schmaler, die Türen hatten kunstvolle Verzierungen.
» Wo sind wir, Aszulay?«, fragte ich.
» In der Mellah, dem jüdischen Viertel.« Er sah mich an. » Weißt du etwas über die marokkanischen Juden?«
Ich verneinte. Etienne hatte sie nie erwähnt.
» Melh heißt Salz. Eine Legende besagt, dass es in früheren Zeiten den Juden oblag, nach einem Kampf die Köpfe der enthaupteten Feinde einzusalzen. Anschließend wurden sie dann auf der Stadtmauer aufgereiht.«
Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich wieder daran, woher der Dschemma el Fna seinen Namen hatte.
» Heute spielen die Juden, vor allem die Jüdinnen, eine wichtige Rolle für die wohlhabenden Marokkanerinnen. Sie bieten den Frauen, die nie ihre Häuser verlassen dürfen, verschiedene Dienste an. Sie versorgen sie mit hochwertigen Stoffen, nähen ihre Kleider und verkaufen ihnen Schmuck. In den Harems sind jüdische Händler gern gesehen.«
Ich blickte mich in dieser Stadt in der Stadt um und machte eine andere Sprache aus. Als wir an einem Tor vorbeikamen, sah ich in einem Innenhof eine Schar kleiner Jungen Schulter an Schulter auf rauen Holzbänken sitzen. Sie hatten kleine Bücher in der Hand und schaukelten mit dem Oberkörper vor und zurück, während sie mit ihren hohen Stimmen laut vorlasen.
» Schau, Onkel Aszulay, eine Schule«, sagte Badou und zog an meiner Hand, um anzuhalten. » Die Jungen lernen.«
Da Aszulay nicht stehen geblieben war, ließ er meine Hand los und rannte ihm nach. » Nicht wahr, Onkel Aszulay, bald werde ich auch in die Schule gehen?«
Aszulay sagte nichts, doch Badou sah fragend zu ihm empor, während er neben ihm herlief.
» Warum geht er noch nicht zur Schule?«, fragte ich. » Er ist alt genug, oder nicht?« Die Jungen, die ich ab und zu in der Medina gesehen hatte und die zu dritt oder viert meist an der Hand eines älteren Bruders zur Schule gingen, konnten kaum älter als Badou gewesen sein.
Doch Aszulay schüttelte kaum merklich den Kopf, und mir wurde klar, dass ich dieses Thema besser ruhen ließ. » Kommt mit«, sagte er und bog scharf in einen dunklen Durchgang ein. » Mein Lastwagen steht vor der Mauer der Mellah.«
Wir passierten eine Reihe weiterer Torbögen, bis Aszulay schließlich eine weiße Doppeltür aufschloss. In der Garage stand ein Fahrzeug, das wie eine große Kiste anmutete. Es war staubig und verbeult; wie alle Fahrzeuge, die ich in Marokko gesehen hatte, schien es ziemliche Strapazen aushalten zu müssen.
Aszulay verstaute die beiden Säcke auf der Ladefläche, die mit einer Segeltuchplane bedeckt war. Ich ging um den kleinen Laster herum und ließ die Hand über die Stoßstange gleiten.
» Was ist das für eine Marke?«, fragte ich.
Aszulay sah mich über die Kühlerhaube hinweg an. » Ein Fiat-Lastwagen, Baujahr 1925.«
» Ach so, ein Fiat«, sagte ich nickend. » Ich habe noch nie einen Lastwagen dieser Marke gesehen, aber schon darüber gelesen. Wir hatten einen …« Ich hatte sagen wollen, wir hatten einen Silver Ghost, überlegte es mir aber anders. » … ein Auto.«
» Besitzt in Amerika jeder einen Wagen?«, fragte er.
» O nein, bei weitem nicht jeder.«
» Komm, Badou«, sagte er, » steig ein.«
Der Kleine kletterte auf den Fahrersitz, kniete sich hinters Lenkrad und drehte es mit aller Kraft von einer Seite auf die andere. » Schau, Sidonie, schau! Ich fahre.« Er grinste über beide Backen. Sein linker Schneidezahn hing quasi nur noch an einem Faden. Ich lächelte und stellte meine Tasche zu meinen Füßen auf den Boden. Als Aszulay einstieg, rutschte Badou auf der Sitzbank zu mir herüber. Aszulay wickelte das Ende seines Turbans um Mund und Nase und drehte den Zündschlüssel um. Erst hustend, dann dröhnend erwachte der Fiat zum Leben.
Am Stadtrand von Marrakesch hielten wir an. Aszulay ging zu einem Stand und kam mit einer Lattenkiste mit vier Hühnern zurück. Als er sie auf die Ladefläche stellte, die durch die Segeltuchbespannung vom Fahrerhaus getrennt war, protestierten die Hühner laut gackernd.
Als wir die Stadt verlassen hatten
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