Der Duft
konnten sie im Ernstfall den eigenen Soldaten einen Vorteil verschaffen, indem die Aktionen des Feindes zumindest
ein Stück weit vorhersehbar wurden. Gelegentlich wurden sie auch in Fragen der psychologischen Kriegsführung und bei Problemen
innerhalb der eigenen Truppe zu Rate gezogen. Doch der aktuelle Fall ging weit über die gewöhnliche Routine der Abteilung
hinaus und hatte eine viel größere konkrete Bedeutung.
Entsprechend nervös war Harrisburgs Chef. Sein Hemd hing ihm wieder mal halb aus der schlecht gebügelten Hose, und er hatte
sich beim Mittagessen in der Cafeteria einen Soßenfleck am Ärmel eingehandelt. Natürlich musste er nicht um Erlaubnis fragen,
wenn er mit seinem Mitarbeiter sprechen wollte. Dass er es trotzdem tat, zeigte, wie wichtig ihm das Gespräch war. Dass er
sich persönlich aus dem dritten Stock hier herunter bemüht hatte, statt anzurufen oder eine E-Mail zu schicken, ebenfalls.
»Natürlich.«
|89| Panicek schloss die Tür. »Ich mache mir Sorgen.«
»Ja, Sir. Ich auch.«
»Sind Sie weitergekommen?«
»Nein. Jedenfalls nicht wesentlich. Ich habe eine Menge Möglichkeiten ausgeschlossen: Krankheiten, neuartige Drogen, Hypnose,
elektromagnetische Strahlung. Es gibt nichts, was eine Fremdeinwirkung erklären könnte. Andererseits: Es sind zwar genügend
Fälle von stressbedingtem Amoklauf bekannt. Aber es gibt in der Literatur keinen einzigen Fall, bei dem mehrere Leute gleichzeitig
durchgedreht wären. Mit einer Ausnahme. Aber die kann für diesen Fall nicht relevant sein.«
»Was für eine Ausnahme?«
»Manchmal verlieren Menschen in einer Schlacht sämtliche Hemmungen und schlagen oder schießen wild um sich, ohne Rücksicht
auf das eigene Leben, manchmal sogar ohne Unterschied zwischen Freund und Feind. Man nennt das Blutrausch. Das Phänomen ist
seit dem Mittelalter bekannt. Denken Sie an die Berserker – nordische Krieger, denen nachgesagt wurde, in der Schlacht jede
Furcht und Schmerzempfindlichkeit zu verlieren und in blinde Raserei zu verfallen.«
»Klingt wie eine passende Erklärung. Aber Sie sagten, ein Blutrausch könne in diesem Fall nicht die Erklärung sein. Warum
nicht?«
»Er ist bisher immer nur in gewaltsamen Auseinandersetzungen beobachtet worden – mitten im Schlachtgetümmel. Die genauen Ursachen
sind noch nicht erforscht, aber es lag immer eine konkrete Lebensbedrohung vor, und vermutlich waren auch enthemmende Substanzen
wie Alkohol oder Drogen im Spiel. Es ist kein Fall dokumentiert, bei dem Soldaten einfach so in Raserei verfallen sind.«
»Aber es gibt doch viele Beispiele von Massakern an Zivilisten. Menschen steigern sich gegenseitig in eine Orgie |90| der Gewalt hinein. Sie verlieren die Beherrschung, ihre Hemmungen, ihre Menschlichkeit.«
»Das stimmt leider. Aber dann schießen sie nicht wahllos um sich, schon gar nicht auf ihre Kameraden. Massaker laufen immer
nach dem gleichen Muster ab: Zunächst überzeugen sich die Täter gegenseitig, dass ihre Opfer keine vollwertigen Menschen sind
– zum Beispiel, weil sie einer anderen Rasse oder einer anderen Religion angehören. Damit überwinden sie das Mordtabu. Sie
treffen eine Art Abkommen, eine Verschwörung, sprechen sich schon vorher gegenseitig von jeder Schuld frei. Und dann gehen
sie sehr systematisch vor. Sie unterscheiden sorgsam zwischen Opfern und Tätern. Hinterher wissen sie noch genau, was sie
getan haben, und versuchen, ihre Tat zu rechtfertigen. Solche Massaker geschehen selten spontan. Es braucht immer eine gewisse
Phase des gegenseitigen Aufschaukelns, und, wie bei einem gewöhnlichen Mord, auch ein Motiv, zum Beispiel Rache. Im konkreten
Fall haben wir dafür nicht den geringsten Hinweis – im Gegenteil. Die beteiligten Soldaten galten bei Kameraden und Vorgesetzten
als besonnen, pflichtbewusst und hilfsbereit. Collins, der Truppführer, hatte selbst eine schulpflichtige Tochter.«
»Es gibt also weiterhin keine Erklärung für das, was geschehen ist?«
Harrisburg schwieg einen Moment, bevor er antwortete. »Ich bin davon überzeugt, dass es eine Erklärung gibt. Aber ich habe
sie noch nicht gefunden.«
»Hören Sie, Bob. Diese Sache gefällt mir überhaupt nicht. In zwei Wochen ist die Friedenskonferenz in Riad. Der Präsident
hat seit Beginn seiner Amtszeit daran gearbeitet, die verfeindeten Parteien an einen Tisch zu bringen. Wegen des Vorfalls
wäre die ganze Sache beinahe geplatzt. Nur, weil er so spontan
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