Der Duft
und keiner hat was unternommen. Diese Mistkerle haben also eigentlich wenig
zu befürchten. Es muss mehr hinter der Sache stecken! Was genau waren das für Versuche?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Marie. Sie spürte den leichten Druck des Fläschchens an ihrer Brust, hielt es aber für klüger,
Ridley nichts davon zu erzählen. Sie würde es den deutschen Behörden übergeben. Die sollten es dann in einem Labor untersuchen.
Der verlockende Duft von frisch gekochtem Essen stieg ihnen in die Nase. Vor Hunger bekam Marie weiche Knie. Sehnsüchtig sah
sie zu dem Topf herüber, der auf einer geschützten Feuerstelle brodelte, während ein junger Afrikaner darin rührte. Ridley
bemerkte ihren Blick.
|200| »Sie müssen Hunger haben! Kommen Sie, wir essen erst mal was, danach sehe ich mir Ihre Verletzungen an.«
Der Kessel enthielt einen kräftigen Eintopf aus Gemüse und Hühnerfleisch. Marie war sich sicher, in ihrem Leben noch nie etwas
so Köstliches gegessen zu haben.
Nach dem Essen behandelte Ridley ihre Kratzer und Rafaels Stirnwunde. Erst wollte Marie abwinken, weil sie die Behandlung
der Hautabschürfungen für unnötig hielt. Die Gorillaforscherin machte ihr jedoch schnell klar, dass sich in Afrika auch kleinste
Kratzer zu tödlichen Schwären entzünden konnten. Sie wies ihnen eine Hütte zu, die eigentlich für Gastforscher vorgesehen
war. Es gab dort nur ein nicht besonders breites Bett, aber Marie und Rafael versicherten gleichzeitig, kein Problem damit
zu haben. Nach der Nacht auf dem Baum war die Vorstellung, in einem richtigen Bett zu schlafen, einfach überwältigend – egal,
wie eng es sein mochte.
Sie legten sich angezogen nebeneinander auf die schmale Liege und deckten sich mit einer von der immerwährenden Feuchtigkeit
klammen Wolldecke zu. Obwohl sie todmüde war, lag Marie lange wach und lauschte Rafaels gleichmäßigem Atem. Ihr Herzschlag
ging viel zu schnell. Die Nähe seines Körpers und die Wärme, die von ihm ausging, machten sie irgendwie nervös.
Ein seltsames Verhältnis war es, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Er war ihr Schüler und gleichzeitig ihr Lehrmeister,
ihr Schutzbefohlener und ihr Beschützer. Ohne ihn wäre sie nach dem Unfall hoffnungslos verloren gewesen. Er war jünger als
sie, und er wirkte oft naiv und undiszipliniert, doch gleichzeitig besaß er ein natürliches Selbstbewusstsein, das so ganz
anders war, als beispielsweise Ricos aufgesetztes Machogehabe, und das ihm eine Aura von Kraft und Willensstärke verlieh.
Ein wenig erinnerte Rafael sie an Arne – auch er war |201| sanft, einfühlsam und humorvoll. Aber Arne war auch immer ein bisschen langweilig gewesen, stets vorsichtig und zurückhaltend,
vernünftig und risikoscheu. Rafael dagegen war impulsiv, chaotisch, unberechenbar – und gerade deshalb faszinierend. Außerdem,
gestand sie sich widerstrebend ein, war er irgendwie süß mit seinen langen Haaren, den braunen Augen, seinem verschmitzten
Lächeln und dem Dreitagebart, der sich mittlerweile auf seinen Wangen gebildet hatte.
Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wäre, durch dieses Haar zu streichen, ihm tief in die Augen zu sehen, seinen frechen
Mund auf ihren Lippen zu spüren. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus, als ihr klar wurde, dass es nur einer
leichten Drehung ihres Kopfes bedurfte, um diese Fantasie Wirklichkeit werden zu lassen. Mit aller Macht kämpfte sie die Regung
nieder. Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte: eine Affäre mit einem Kollegen! Sie schloss die Augen, doch ihr Herz schlug
immer noch viel zu schnell, und die Schrecken der vergangenen vierundzwanzig Stunden taten ein Übriges, um sie wach zu halten.
Sie drehte sich auf die Seite, idiotischerweise wütend auf ihn.
»Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte er leise.
Sie fuhr zusammen. Einen verrückten Moment lang glaubte sie, er habe ihre Gedanken irgendwie erraten. Sie tat so, als habe
sie ihn nicht gehört und sich nur im Schlaf herumgewälzt.
Doch er ließ sich nicht täuschen. Er rückte näher an sie heran – näher! –, sodass sie mit ihrem Rücken gegen seine Brust gepresst
lag, beinahe so, wie gestern Nacht auf dem Baum. Er legte einen Arm um sie, seine Hand berührte ihren Bauch. Sie wagte kaum
zu atmen. Wenn er spürte, wie angespannt sie war, wie heftig ihr Herz pochte, ließ er es nicht erkennen.
|202| Sie lag still, hin und her gerissen zwischen dem verzweifelten
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