Der Duft
Quadratzentimeter des Jeeps von Alten, Kranken und Kindern besetzt war. Marie
hatte jetzt vier Kinder auf dem Schoß und konnte kaum noch atmen. Selbst Rafael fuhr mit zwei Kindern auf den Knien. Zwei
weitere saßen auf der Motorhaube, eine alte Frau auf dem Dach. Vor etwa einer Stunde hatte der Strom der Menschen die Hauptstraße
nach links verlassen und war einem schmaleren Weg nach Westen gefolgt. Gleichzeitig waren auch von Norden Flüchtlinge dazu
gestoßen.
Schließlich kam die Kolonne vollständig zum Stillstand. Hunderte Menschen warteten in einer Schlange vor einem Kontrollposten,
der von zwei Militärfahrzeugen markiert wurde. Sie trugen in großen weißen Buchstaben die Aufschrift UNHCR. Dahinter erstreckte
sich eine lange Reihe weißer Zelte mit roten Halbmonden. Blauhelmsoldaten winkten die Menschen einzeln durch und notierten
ihre Namen auf Listen. Dann wurden sie von einer Gruppe von Ärzten empfangen, die die Verletzten und Kranken in separate Zelte
brachten.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die mittlerweile mehr als ein Dutzend Insassen des Jeeps herab- und herausgeklettert |268| waren. Sie bedankten sich unter Tränen bei Rafael und Marie. Einer der Soldaten lächelte Marie an. »Thank you!«, sagte er.
Marie lächelte nicht zurück. Sie hatte an diesem Tag zu viel Leid und Elend gesehen. Immerzu musste sie an all die Menschen
auf der Strecke denken, weinende Kinder, Verletzte, Alte und Kranke, die sie nicht mehr hatten mitnehmen können.
»Your name, please?«, fragte der Soldat.
»Marie Escher.« Sie buchstabierte es auf Englisch.
»Where do you live?«
»Berlin, Germany.«
Der Soldat notierte die Angaben auf einem Klemmbrett. »Is there anyone we should contact, in order to get you out of here?«
Marie überlegte einen Moment. Sollte sie den Soldaten bitten, ihren Vater anzurufen? Nein, es war besser, sie sprach selbst
mit ihm. Aber vorher musste sie jemanden vor Ondomar und dem Pheromon warnen. »I need to speak to the commander of this camp!«
Der Soldat sah sie einen Moment an. Dann nickte er. Er wies auf ein großes Zelt nicht weit vom Eingang des Lagers. »The large
tent over there, on the left, with the UN symbols.«
Marie deutete auf Peko und fragte, ob die Eltern des Jungen hier im Lager angekommen seien. Der Soldat erklärte, es gebe eine
zentrale Stelle für das Auffinden vermisster Familienangehöriger. Dort sei auch die Waisenkinderbetreuung.
Rafael parkte den Jeep neben einigen Fahrzeugen des Roten Halbmonds, der dem Roten Kreuz entsprechenden Hilfsorganisation
in islamischen Ländern. Als sie das Lager betraten, wurden sie von einem jungen, blonden Arzt angesprochen. Sein weißer Kittel
war voller brauner Flecken. |269| Das aufgenähte Namensschild wies ihn als Dr. Markus Berens aus. »Are you hurt?«, fragte er.
»Nein, danke, uns geht es gut. Ich könnte nur etwas zu essen vertragen. Aber vorher müssen wir die Eltern dieses Jungen finden.
Können Sie mir sagen, wo wir hier die Zentralstelle für Vermisste finden?«
Berens lächelte. »Sie sind Deutsche! Kommen Sie, ich bringe sie hin. Das Lager ist inzwischen so groß, dass man sich leicht
verirrt.«
Sie folgten ihm durch die ordentlichen Reihen weißer Zelte. Die Gesichter der Menschen, die dazwischen herumliefen, waren
von tiefer Verzweiflung gezeichnet. Sie hatten alles verloren – ihre Heimat, ihr Hab und Gut und oft auch Menschen, die sie
liebten. Nur die Kinder schienen mit der Situation – zumindest oberflächlich – einigermaßen umgehen zu können. Sie spielten
zwischen den Zeltreihen Fangen oder Fußball.
»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte Marie.
Berens sah sie merkwürdig an. »In einem Flüchtlingslager der UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen.«
»Das meinte ich nicht. In welchem Land sind wir?«
»Sie wissen nicht, in welchem Land Sie sind?«
»Wir haben uns verfahren, und dann wurden wir angegriffen und mussten fliehen«, warf Rafael ein.
»Wir sind hier im Sudan. Nördlich der Stadt Aweil. Eigentlich war es in dieser Gegend bisher friedlich, aber der Darfur-Konflikt
breitet sich immer weiter nach Süden aus.«
Von der Darfur-Krise hatte Marie in den Nachrichten gehört. »Was genau verbirgt sich denn hinter diesem Konflikt?«
»Es gibt seit Langem schwelende Spannungen zwischen den arabischen Bevölkerungsgruppen im Norden, die sich als die Herren
des Landes sehen, und den schwarzafrikanischen |270| Stämmen im Süden.
Weitere Kostenlose Bücher