Der dunkle Highlander
durchlebte den Tag wie in einem Traum und kam aus dem Staunen nicht heraus.
Jetzt stand sie mit Gwen im rosigen Licht des frühen Abends auf den Stufen vor dem Portal. Die Sonne leuchtete am Horizont, dünne Nebel stiegen auf. Von der breiten Steintreppe aus hatte man einen weiten Blick über das Tal, in dem die Lichter von Alborath nach und nach aufblitzten und gegen die beginnende Dämmerung ankämpften. Chloe konnte sich gut ausmalen, wie prächtig die Highlands im Frühling oder in voller Sommerblüte waren. Sie überlegte sogar, ob es eine Möglichkeit für sie geben könnte, diese Jahreszeiten hier zu erleben. Vielleicht würde sie nach dem Monat mit Dageus für immer in Schottland bleiben.
Ihr Blick schweifte über die Rasenfläche mit dem funkelnden Springbrunnen vor dem Schloss und blieb an dem prächtigen, dunklen Mann haften, der in weniger als einer Woche ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Er stand in einiger Entfernung in einem Kreis von massiven, uralten Steinen und unterhielt sich mit Drustan. Gwen hatte ihr erklärt, dass sich die Brüder Jahre nicht gesehen hatten, war aber nicht auf die Ursache der Entfremdung eingegangen. So wissbegierig Chloe normalerweise war, diesmal nahm sie zur Abwechslung einmal Abstand davon, bohrende Fragen zu stellen. Die Entfremdung der Geschwister erschien ihr allerdings wie eine Art Irrtum.
»Es ist so schön hier«, sagte sie mit einem wehmütigen Seufzer. Ach, wenn sie doch hier leben könnte und zu einem solchen Ort gehören würde! Die ausgelassene Fröhlichkeit von Maggies und Christophers sechs Kindern. Das Schloss war voller Leben - eine Zuflucht für Familie und Traditionen. Stimmen von spielenden und gelegentlich zankenden Kindern, die durch die Räume hallten. Chloe wurde als Einzelkind vom Großvater aufgezogen, sie hatte nie einen solchen Trubel um sich gehabt.
»Das ist es«, stimmte Gwen ihr zu. »Sie nennen diese Steine die Ban Dochaid«, erklärte sie und deutete auf den Kreis. »Das bedeutet >die weiße Brücke<.«
»Die weiße Brücke«, wiederholte Chloe. »Ein komischer Name für eine Gruppe von Steinen.«
Gwen zuckte mit den Achseln und lächelte geheimnisvoll. »Es gibt in Schottland eine Menge Legenden über solche Steine.« Sie schwieg eine Weile, dann setzte sie hinzu: »Einige sagen, sie sind das Tor zu einer anderen Zeit.«
»Ich habe mal einen Liebesroman gelesen, in dem so was vorkam.«
»Sie lesen Liebesromane?«, rief Gwen erfreut.
Nun sprachen sie eine Viertelstunde lang über ihre Lieblingsbücher und empfahlen sich gegenseitig lesenswerte Romane.
»Ich wusste gleich, dass ich dich mögen würde.« Gwen strahlte. »Als du vorhin über die Geschichte all dieser alten Sachen gesprochen hast, habe ich fast befürchtet, du wärst ein verstaubter literarischer Typ. Nichts gegen große Literatur, aber wenn ich existentiell berührt oder deprimiert sein will, fange ich einen Streit mit meinem Mann an oder sehe CNN.« Sie schwieg einen Moment und legte sich eine Hand auf den gerundeten Bauch. »Schottland ist anders als alle sonstigen Länder. Man fühlt die Magie in der Luft, nicht wahr?«
Chloe neigte den Kopf ein wenig zur Seite und betrachtete die aufragenden Megalithen. Die Steine waren Tausende von Jahren alt. Wissenschaftler, Archäoastronomen, Anthropologen und sogar Mathematiker führten seit langem hitzige Diskussionen über ihren Sinn und Zweck. Sie waren ein Mysterium, das der moderne Mensch bisher nicht ergründet hatte.
Und ja, sie spürte tatsächlich einen Hauch von Magie und uralten Geheimnissen. Plötzlich fiel ihr auf, dass Dageus inmitten des Kreises ganz natürlich aussah. Wie ein ungezügelter, bedrohlicher Zauberer, ein Bewahrer von heidnischen Geheimnissen. Sie verdrehte die Augen, weil sie so absurde Fantasien hatte.
»Gwen, was macht er dort?« Aber Gwen zuckte nur mit den Schultern.
Es sah aus, als würde Dageus etwas auf die Innenseite der Steine schreiben. Es waren dreizehn hoch aufragende Steine, die um einen von zwei Felsen gestützten Sockel gruppiert waren. Auf dem Sockel lag ein großer flacher Stein, der die Form einer Grabplatte hatte.
Dageus schritt zum nächsten Stein, und seine Hand bewegte sich energisch über die Innenseite. Jetzt sah Gwen ganz deutlich, dass er etwas schrieb. Seltsam. Sie kniff die Augen leicht zusammen. Gott, war der Mann schön! Er hatte sich nach dem Frühstück umgezogen. Weiche, ausgewaschene Jeans schmiegten sich um seine kräftigen Schenkel und das
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