Der dunkle Punkt
starrte ich zu Marilyn hinüber. Sie war hochgewachsen und schlank, hatte blauschwarzes Haar, tiefliegende dunkle Augen und einen üppigen, geschwungenen Mund, der sich wie eine scharlachrote Wunde in ihrem blassen Gesicht abhob. Plötzlich hielt sie in ihrer geschmeidigen Bewegung inne, als hätte das Mädchen an meinem Tisch ihr einen verstohlenen Wink gegeben, und sah mich einen Moment lang an. In ihren Augen brannte ein kaltes Feuer, aufreizend, fiebrig, unbarmherzig. Dann wandte sie sich langsam ab und blieb reglos stehen. Ihr hautenges rotes Abendkleid unterstrich die graziöse Linie ihres Körpers.
»Heute ist sie nicht ganz auf der Höhe«, sagte Rosalind. »Sie ist eine wichtige Zeugin in dem Mordfall.«
»Meinen Sie den Anwalt, der erschossen wurde?«
»Ja.«
»Teufel auch! Was hat denn Marilyn mit dieser Sache zu tun?«
»Sie hörte den Schuß, als sie gegen halb drei nach Haus kam.«
»Hat sie denn die Tatsache, daß jemand in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ermordet wurde, so angegriffen?«
»Ach, keine Spur. Aber die Polizei hat sie ganz früh aus den Federn gejagt und nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht. Sie ärgert sich nur darüber, daß sie um ihren Schönheitsschlaf gekommen ist, das ist alles.«
»Trinkt sie?« erkundigte ich mich.
Das Mädchen sah mich plötzlich forschend an. »Sie sind ein Detektiv, oder?«
Ich zog erstaunt die Brauen hoch. »Aber nein. Wie kommen Sie nur darauf?«
»Doch, Sie sind einer. Sie wollen sie über die Schießerei ausfragen, stimmt’s?«
»Mir ist im Leben schon manches passiert, aber Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß ich wie ein Detektiv aussehe?«
»Sie sehen nicht so aus, trotzdem sind Sie einer. Na, egal, Sie sind jedenfalls ein sehr netter Schnüffler. Deshalb will ich Ihnen schnell noch einen Tip geben. Marilyn ist so kalt wie eine Hundeschnauze, aber sie ist zuverlässig. Wenn sie sagt, daß sie den Sdiuß um halb drei gehört hat, dann stimmt das. Ihre Fragen werden daran nichts ändern. Das ist reine Zeitverschwendung.«
»Gut. Trotzdem möchte ich mit ihr sprechen. Sie werden das doch für mich arrangieren?«
Sie nickte. »Mir ist direkt ein Stein vom Herzen gefallen, seit ich weiß, daß Sie beruflich hier sind. Ich fürchtete schon, Sie hätten sich in sie verguckt.«
»Herrje! Das klingt ja, als hätte sie die Angewohnheit, ihre Verehrer zum Frühstück zu verspeisen. Ich glaube, Sie übertreiben. Sonst hätte sie sich doch nicht in diesen Burschen verliebt. Wie ist das eigentlich passiert?«
»Ach, es ist direkt zum Lachen. Es begann mit dem üblichen Schmus, aber als er merkte, daß sie eine Schwäche für ihn hatte, zeigte er ihr plötzlich die kalte Schulter. Das brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht. Sonst ist es nämlich immer gerade umgekehrt. Ihre anderen Verehrer drohen ihr mit Selbstmord und solchem Blödsinn und führen sich auf wie die Verrückten, wenn Marilyn sie abserviert. An Gleichgültigkeit ihr gegenüber ist sie nicht gewöhnt. Das hat sie umgeworfen.«
»Woher wissen Sie das alles?« fragte ich.
»Marilyn hat’s mir erzählt.«
»Auch die Sache mit dem Schuß?«
»Ja.«
»Sie halten sie für glaubwürdig?«
»Unbedingt.«
Ich grinste sie an. »Schönen Dank, Rosalind. Sie haben mir alles erzählt, was ich wissen wollte. Ich glaube, ich brauche Marilyn nicht mehr zu bemühen.«
»Ja, aber ich hab’ ihr schon ein Zeichen gegeben, und sie wird gleich herüberkommen. Sehen Sie mal, wie sie sich in Positur stellt. Gleich wird sie Ihnen über die Schulter zulächeln. Das macht sie immer. Diese Pose stammt aus einem Filmkalender.«
»Tut mir leid, daß sie ihre Reize umsonst verschwendet. Sie können ihr sagen, ich hätte es mir anders überlegt. Gute Nacht.«
»Sehe ich Sie wieder?« wollte sie wissen.
»Fragen Sie das alle Ihre Kunden?«
»Natürlich.« Sie sah mich mit kriegerischer Miene an. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, zum Kuckuck noch mal! Daß ich an gebrochenem Herzen sterbe? So wachen Sie doch endlich auf, Mann! Sie sind mir ein schöner Detektiv!«
»Danke«, erwiderte ich trocken. »Übrigens ist es möglich, daß Sie mich im Laufe der nächsten Tage Wiedersehen. Bis dahin alles Gute.«
»Wohin gehen Sie denn jetzt?«
»Weiß ich noch nicht. Muß mir die Beine vertreten: ein paar Details nachprüfen, Aufträge erledigen, Spuren nachgehen und dergleichen. Ich hasse diesen Kleinkram. Aber was will man machen?«
»Eben. Man muß schließlich leben. Hilf dir selbst
Weitere Kostenlose Bücher