Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Gewicht der Bäume stemmenden Tieren vorüber auf Baumaschinen zu. Der Himmel ist an diesem Morgen strahlend blau, aber die Luft fühlt sich kalt an auf der Haut; überraschend frisch, wie der Geschmack von Menthol auf der Zunge.
Sie steigen den Hang hinauf, Michaela und Daniel vorneweg, der Kranke hintendrein, er hat Schwierigkeiten, ihnen zu folgen, und oben auf der Anhöhe angekommen, stellt Daniel fest, dass sich natürlich auch hier in den Bergen etwas getan hat, die Zeit keineswegs stehengeblieben ist: Vor ihnen erstreckt sich eine Siedlung aus zwanzig identischen, leicht versetzt zueinander angeordneten Blockhäusern im kanadisch-rumänisch-österreichischen Stil. Es sind Billigbauten, nicht wirklich hässlich, aber doch geschmacklos, und Michaela stapft auf den am Rand der zertretenen Wiese stehenden Container der Bauleitung zu. Es öffnet ein Mann, der mit seiner Rolex-Uhr und dem ans Ohr gepressten Multifunktions-Handy irgendwie fehl am Platz wirkt, eher wie ein Klischee aussieht. Der Immobilienhändler tritt heraus, brüllt in sein knäckebrotförmiges Handy und macht damit sofort deutlich, dass, auch wenn etwas weiter unten am Hang Pferdegespanne gefällte Holzstämme hinter sich herzerren und Kaffee aus angeschmorten Plastiktassen getrunken wird, hier oben doch das 21. Jahrhundert angebrochen ist, das angestrengte Businessklima europäischer Immobilienmärkte Einzug gehalten hat.
Während der Makler Anweisungen erteilt, wie man in Bukarest, Sibiu oder Timişoara die Immobilienblase doch noch einmal anheizen könnte, kämpft sich der Österreicher weiter den Hang hinauf, muss immer wieder stehen bleiben, um Luft zu holen, und in diesem Augenblick wird Daniel bewusst, dass der Kranke an Herz oder Lunge leidet – wie der Vater, dieser unter einem dünnen hellblauen Laken liegende, nur noch durch Maschinen mit der Welt verbundene Körper.
Es war idiotisch, ihn dort alleinzulassen; Fil, der jeden Moment sterben kann, während er hier, 1500 Kilometer entfernt, mit einem fremden, ebenfalls todkranken Mann auf einer Bergwiese steht.
Ela und der Immobilienhändler widmen sich den Verhandlungen, verständigen sich nach einigem Hin und Her auf Kaufpreis und Zahlungsmodalitäten, unterzeichnen Papiere, tauschen Vertragskopien aus. Danach kehren sie zu dritt, ohne den Immobilienhändler, zum Holzverschlag zurück und setzen sich unweit ihrer Autos noch einmal kurz auf eine frisch gefällte Tanne. Die von den Gipfeln fallende Brise lässt sie frösteln, an den Fingerkuppen klebt Harz, es riecht süßlich, Daniel würde gern etwas über die Krankheit erfahren, das Leiden, das den Fremden kaum atmen lässt. Hat der Vater nicht etwas Ähnliches gefühlt, bevor er ins Koma fiel, fühlt er es nicht immer noch? Doch Daniel weiß nicht, wie er ein solches Gespräch anfangen könnte, komm süßer Tod , wie er einen Fremden auf eine tödliche Krankheit ansprechensoll, und so sitzen sie wortlos nebeneinander, Michaela hat eine künstlich schmeckende Limonade geholt, ein Getränk, das die alten Zeiten auferstehen lässt , die letzte Limonade ihrer Art , und leeren stumm ihre Flaschen.
Als sie sich voneinander verabschieden, muss Daniel schlucken, weil er weiß, dass es ein endgültiger Abschied ist, weil der Fremde bald ebenso aus der Welt verschwunden sein könnte, sein wird wie der Vater, und wieder geht ihm durch den Kopf, dass Ela die Begegnung eingefädelt haben könnte.
Hast du auch keinen Vater gehabt? fragt Daniel, als sie zum Wagen zurückkehren.
Ist in Rumänien geblieben, antwortet sie knapp.
Über eine Schotterpiste rollen sie ins Tal zurück. Eine Viertelstunde bachabwärts liegt eine Ortschaft: schmucke Bauernhäuser, eine frisch renovierte orthodoxe Kirche, die Bewohner in Trachten. Bis zum Ortsausgang bestimmen helle, sonnengerötete Gesichter das Bild. Etwas weiter dann, vielleicht einen Kilometer entfernt und in den Wald hineingebaut, eine zweite Siedlung: Karton- und Bretterverschläge, auffallend viele Wäscheleinen, zerschlagenes Glas. Von offenen Kochstellen steigt Rauch auf.
Ein Slum, denkt Daniel, ein Elendsviertel wie aus dem Fernsehen, wie aus der Dritten Welt.
Er deutet fragend mit dem Finger auf die Siedlung.
Sie habe es ihm doch gesagt: Rumänien ist eine Apartheid-Gesellschaft.
Eine Schar Kinder kommt aus dem Wald gerannt, um neben dem Wagen herzulaufen, und Ela verteilt Münzen durchs offene Fenster. Ein Gewirr aus Stimmen und Wortfetzen, Reifen knacken auf Schotter, Halbsätze,
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