Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
die an der Windschutzscheibe abperlen.
Ihre Mutter sei mit ihrer Opferrolle hausieren gegangen, beginnt Ela unvermittelt zu erzählen. Aber es gebe im Leben noch etwas Anderes. Wenn die Mutter darüber gesprochen hätte, wäre sie allerdings nicht mehr auf so viele Empfänge eingeladen worden.
Man kann nicht immer über alles gleichzeitig reden, sagt Daniel.
Man sollte aber auch nicht immer nur über sich selbst reden, erwidert sie, und Daniel fragt sich, ob der Satz auf ihn gemünzt ist, auf ihn gemünzt sein könnte.
VII
Als er am Morgen wach wird, zwei Tage später, ist es still im Haus, hört er nur das Knarren der Bohlen unter seinen Füßen, sieht er hinter den einfach verglasten Fenstern eine Schafherde über eine trockene Wiese ziehen.
Wieder liegt ein Zettel auf der Küchenablage, liest er, sie sei für ein paar Stunden in die Stadt gefahren, und so macht sich Daniel allein an das Frühstück. Holt Toastbrot aus dem Schrank, das labbrig aus der Plastikpackung fällt, faltet es mit selbstgemachter Konfitüre zu einem Klumpen zusammen. Als er auf der Holzbank Platz genommen hat, die Tageszeitung durchblättert, ein Korruptionsskandal, eine Regierung in der Krise, geht ihm plötzlich durch den Kopf, dass er seine Sache aktiver in die Hand nehmen muss, die Zeit verstreicht, die Tage vergehen, ohne dass er vorankommt. Fil, denkt Daniel, hätte nicht gewartet, dass sich die Fragen von selbst beantworten, hätte angesprochen, was er wissen will. Der Vater mag nichts für eine Karriere getan haben, aber antriebslos war er nicht, Fil war ein Macher.
Daniel wird später nicht recht sagen können, ob es eine bewusste Entscheidung oder einfach das unbestimmte Gefühl ist, etwas unternehmen zu müssen, sicher ist nur, dass er aufsteht, von einer eigenartigen Kraft in Bewegung gesetzt die Küche verlässt und, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er Elas Gastfreundschaft missbrauchen, eine Grenze überschreiten könnte, zu ihrem Zimmer hinübergeht. Getrieben von dem Wunsch, bei ihr etwas über den Vater zu finden, Fotos aus der gemeinsamen Zeit, Briefe, die die Trennung oder noch besser Fils Verhältnis zu ihm selbst erklären, betritt er das Schlafzimmer, das er bisher nur vom Gang aus betrachtet, in das er bis dahin nur den einen oder anderen verstohlenen Blick geworfen hat, und ist überrascht. Auf dem Boden liegen Briefe, getragene Wollsocken, Pullover, ein schmutziges T-Shirt, und er wundert sich über die Unordnung, die nicht recht zu der Frau passt, der so strukturiert wirkenden Frau, die immer zu wissen scheint, was sie will. Er lässt den Blick an der Regalwand herunterwandern, greift schließlich nach einem Aktenordner, auf dessen Rücken Berlin steht, und schlägt ihn auf; Staub stiebt auf, Daniel muss niesen.
Er merkt schnell, dass das, was ihm da in die Hände fällt, wenig mit seinem Leben zu tun hat: Schulzeugnisse, Aufnahmen aus dem Ceauşescu-Rumänien, die zusammengeschnipselte radikale Zeitung , das vergilbte Typoskript eines Gedichts, Urlaubspostkarten von der Schwarzmeerküste, dem Gran Canyon, der Mecklenburgischen Seenplatte. Kein einziger Hinweis auf den Vater: kein gelber Zettel mit dunkel verfärbtem Rand und handschriftlicher Notiz, keine Widmung in einem Buch. Falls Ela je mit dem Vater zusammen war, scheint sie jedes Andenken daran getilgt zu haben. Daniel macht trotzdem weiter, lässt Briefe, Dokumente, Schnappschüsse durch die Finger gleiten, sucht nach Fils Unterschrift auf einem Brief, dem Namen des Vaters unter einem Artikel in einer der Zeitschriften. Hat der Vater wohl jemals einen Artikel mit eigenem Namen unterzeichnet?
Besorgt, dass die Spur ins Nichts führen und die Reise umsonst gewesen sein könnte, greift er schließlich nach einemUmschlag, aus dem Fotos herausragen, zieht die Bilder heraus und wirft sie auf den Tisch. Die meisten Aufnahmen stammen aus Rumänien, Daniel schiebt sie achtlos beiseite, doch dann verharrt er: Auf einem der Fotos ist ein Mädchen zu sehen, eine auffallend schöne junge Frau, vielleicht 17, sie trägt ein Surfbrett unter dem Arm. Die Frau, schwarze Haare, Locken, ein sonnengebräunter, sportlicher Körper, steht an einem Strand, hinter ihr brechen sich Wellen, weiße Schaumkronen säumen die See, die Frau reckt den Daumen der freien Hand nach oben. Daniel lächelt, muss das Lachen der Fotografierten erwidern.
Er schiebt die Bilder zurück in die Mappe, blickt erneut aufs Regal, greift nach einem Ordner, auf dem schlicht 84-87 zu
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