Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
lesen ist, und klappt auch diesen langsam auf: das Jahr seiner Geburt, die ersten Lebensjahre. Ganz oben ein Flugblatt: Doch unabhängig von unserer Position, unabhängig von der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit den Mitteln, die in Krefeld angewendet worden sind, sagen wir, hier sind Teile der Friedensbewegung verletzt und festgenommen worden, Teile derjenigen, die gegen den US - und NATO -Aufrüstungskurs in Krefeld demonstriert haben. Das erfordert unsere Solidarität, erfordert, dass wir uns nicht distanzieren. Gerade im Hinblick auf den »heißen Herbst« und die für Dezember geplante Stationierung halten wir es für wichtig, Fragen der Formen und der Effektivität des Widerstandes breit zu diskutieren . Daniel betrachtet das Foto, auf dem behelmte Demonstranten zu sehen sind, Hunderte von Menschen mit schwarzen Helmen und Motorradmasken, sie halten ein Transparent, auf dem eine Faust das NATO -Zeichen zerschlägt, darunter die Parole Kampf der imperialistischen Kriegspolitik , er denkt: in dieser Zeitdrehte sich alles um Gewalt, alles war martialisch, als plötzlich von hinten laut eine Stimme ertönt, Michaelas Stimme.
Was soll diese Scheiße?
Schuldbewusst zuckt Daniel zusammen.
Sie steht im Türrahmen, ein Umriss, ein dunkler Scherenschnitt. Von der Haustür fällt Licht in den Gang. Sie hält etwas in der Hand – einen Stock, eine Röhre, vielleicht auch nur eine Rolle Papier.
Daniel ist zu perplex, um zu antworten, öffnet nur einige Male hastig den Mund. Wie ein Fisch, denkt er, der nach Luft schnappt.
Sie macht einen Schritt auf ihn zu. Daniel weiß, dass sie wütend ist, aber ahnt nicht, wie sehr, sieht ihren Umriss wie einen Schatten, hat Angst, dass sie tatsächlich einen Schlagstock in der Hand haben könnte.
Was soll die Scheiße? wiederholt sie und schlägt dann wirklich zu. Obwohl der Schlag nicht weh tut, sackt Daniel zusammen, fällt auf den Boden.
Ich wusste nicht, beginnt er zu stammeln, ich hatte keine Ahnung, wie ich dir das hätte erklären sollen …
Aber sie hört ihm nicht zu, sondern beugt sich über ihn, Zeitungsrolle-Stock-Karton in der Hand, immer noch ein Halbschatten, ein Scherenschnitt gegen das Licht aus dem Gang, und er erkennt, dass sie sein Portemonnaie in der freien Hand hält.
Für wen er arbeitet?
Arbeiten? wiederholt er fassungslos.
Für wen er das macht?
Sie ist direkt über ihm, vergleicht das Foto im Personalausweis mit seinem Gesicht. Daniel Elias Mbele liest sie lautvor, wiederholt Daniel , scheint zu rätseln, ob ihr der Name irgendetwas sagt, sie sich an etwas erinnert.
Erst jetzt erkennt er, was sie in der Hand hat: Es ist die leere Plastikröhre einer kaputten Fahrradpumpe.
Wer bist du? Was willst du?
Sie scheint ihn immer noch nicht zu erkennen, doch Daniel redet trotzdem einfach drauf los. Dass er etwas über Fil erfahren wollte, erfahren musste, den Vater kaum kenne, ein genauso schlechtes Verhältnis zu ihm habe wie wahrscheinlich auch sie, ihn seit Jahren nicht gesehen habe, Daniel sei neun gewesen, sie erinnere sich vielleicht, nach 1994 sei er nicht nach Berlin gefahren, er habe gedacht, er sei über den Vater hinweg, aber seit Fil im Koma liege, fast tot sei, der Vater, der an einer schweren Lungenkrankheit leide, vielleicht habe sie davon gehört, einen Kollaps erlitten habe, ins Koma gelegt worden sei, nur noch durch eine Transplantation gerettet werden könne, ein Maschinenkörper, der auf ein fremdes Organ warte, auf das Fremde, das das Eigene rettet, seit Fil also im Koma liege, sei alles wieder da, die Verletztheit, das Gefühl des Verlassenwerdens. Er berichtet, dass er Beule ausgefragt, aber vom Freund des Vaters nur Anekdoten zu hören bekommen habe, schiebt hinterher, dass bei Beule alles an einen Comic-Strip erinnere und dass Daniel, als er ihre Bilder bei Fil fand, sich sicher gewesen sei, dass sie, dass Ela mehr über den Vater erzählen, sicher würde erklären können, warum Fil ihn damals verließ – immerhin seien sie zusammen gewesen. Er setzt kurz aus und sagt dann, dass er sich nicht getraut habe, ihr die Wahrheit zu schreiben, dass er Angst hatte, sie werde nicht reagieren, weil sie von der Vergangenheit nicht eingeholt werden wollte.
Du hast gebrochen mit ihm, sagt er, es klingt wie eine Frage, du hast doch völlig gebrochen mit ihm …
Fil , wiederholt sie ungläubig, Fils Sohn? und macht ein Gesicht, als habe sie die Möglichkeit nie in Betracht gezogen.
Du Penner, schiebt sie hinterher.
Er
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