Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
ihm vorbei, holt ein Sandwich aus dem Kühlschrank, das sie am Vortag geschmiert haben muss.
Sie hat es eilig.
Wann der Kiosk aufmache, fragt er.
Um halb sieben.
Der Blick auf die Uhr: Es ist neun.
Er will mitkommen; sie mit dem Wagen bringen und den Toyota danach beim Autoverleih abgeben.
Ob er denn auch sicher genug fahre, fragt sie spöttisch.
Heute Nacht sei er doch auch gefahren.
Heute Nacht zähle nicht, sagt sie, heute Nacht sei eine Ausnahme gewesen. Und er erschrickt.
Sie blickt erneut auf die Uhr, wiederholt, dass sie losmüsse.
Er brauche zwanzig Sekunden, sie könne mitstoppen.
Ob er bei der Bundeswehr gewesen sei.
So etwas lerne man eher beim Zivildienst.
Während sie sich vor dem Spiegel, dem im Gang hängenden Kristallspiegel, mit einem Lippenstift den Mund nachzieht, kramt er seine Sachen zusammen; ist ein wenig enttäuscht von ihrer Distanz.
Auf dem Weg zur U-Bahn-Station, ihrem Arbeitsplatz, wo sie die nächsten acht Stunden ohne Sonnenlicht verbringenwird – eigenartiges Kontrastprogramm: vom Seeufer in einen stickigen U-Bahn-Schacht –, sitzen sie stumm nebeneinander, erst als sie aussteigt, fragt er, ob sie sich am Abend sehen könnten, ins Kino gehen, aber sie verneint, behauptet, dass sie verabredet sei, und er spürt, dass er besser nicht insistiert.
Sie verabschieden sich, sie steigt die Treppe in den U-Bahn-Schacht hinunter, in die Abluft hinein, wird vom Erdboden verschluckt, und er bringt den Wagen zum Autoverleih zurück, den Wagen, der nicht auf seinen Namen gemietet ist, den neben den Umzugsplanwagen überraschend klein wirkenden PKW , den er eigentlich gar nicht hätte fahren dürfen, legt im Büro der Autovermietung den Schlüssel wortlos auf den Tresen, und niemand stellt Fragen. Als er den klimagekühlten Raum wieder verlässt, zurück auf die Straße tritt, spürt er die frühe Hitze, der Asphalt heizt sich schnell auf, überraschend schnell, und sofort ist ihm klar, dass er seine Pläne für diesen Tag – Atteste besorgen, sich nach einem Job umschauen – nicht weiter verfolgen, auch an diesem Morgen nicht weiter verfolgen wird. Stattdessen schlendert er nach Hause, setzt sich daheim, bei Fil daheim, ans offene Fenster, hält das Badetuch, das ihn den Vortag über begleitet hat, mit am See war, in Dems Wohnung, der hässlich eingerichteten Wohnung der Tante, das ihn an den Sandstrand erinnert, mit den Fingern umklammert und denkt dabei, immer wieder, an den Spaziergang am See, das Wasser auf der Haut,
ihre körper
am ufer
Weil sie auf seine SMS nicht reagiert, wie vom Erdboden verschluckt bleibt, von den unterirdischen Eingeweiden der Stadt, geht er am Spätnachmittag mit seinen Freunden Fußball spielen, etwas trinken, ins Freiluftkino, wo ein Film aus den Neunzigern läuft, jenem Jahr, als Fil aus Daniels Leben verschwand: zwei Männer kurz nach Mauerfall auf der Fahrt durch den Osten, sie haben geerbt, aber finden ihre Erbschaft nicht, denn sie können nicht lesen. Der Himmel hinter der Leinwand ist von Schwalbenschreien erfüllt, mit hochliegenden, purpurfarbenen Wolkenfetzen übersät, das wetterbestimmende Hochdruckgebiet bewegt sich nicht von der Stelle; die Zeit steht still, denkt Daniel, scheint stillzustehen, Fils Zeit.
Es ist spät, weit nach Mitternacht, als er mit dem Fahrrad wieder nach Hause fährt, über Schleichwege durch Parkanlagen und Seitenstraßen zu Fil nach Hause gelangt, allein ins Bett fällt.
Am nächsten Tag besucht er den Vater, den er jetzt immer gelassener sieht, der ein Fanatiker gewesen sein mag, aber immerhin seinen Freundschaften treu blieb, für sie alles riskierte. Fil hätte von seinem besten Kumpel sicher keine Miete kassiert, die er nicht zahlte, hätte nicht allein ins Krankenhaus gehen müssen, seine Unterhaltungen wären nicht nur um Studium, eine erste Anstellung, einen Kinofilm, Trecking im Himalaja gekreist.
Nachdem Daniel die Intensivstation wieder verlassen, seine Sachen aus dem Schließfach geholt, sich von den Pflegern verabschiedet hat, irrt er durch die Stadt, lässt sich treiben, betrachtet die vorbeilaufenden Passanten wie ein Tourist,ein Durchreisender, wird nur von seinem Telefon in Spannung gehalten, blickt immer wieder sehnsüchtig auf das Display. Er sieht die Frau, deren Anruf ausbleibt, sieht Dem ihr Rad aufpumpen, die ersten Worte zu ihm sagen, mit dem Mietwagen an den See fahren. Das Leben scheint nur noch aus dieser einen Sequenz zu
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