Der eiskalte Himmel - Roman
Gänze zu durchschauen. Unter dem Vorwand, mir das neue Windmessgerät zu zeigen, das er gebaut hat, lotst er mich in den »Brutkasten«, den Arbeitsraum unterm Vorderdeck, den er sich mit Hussey teilt.
Kaum habe ich mir den Schnee aus dem Gesicht gewischt, nehmen mich die beiden in die Zange, und ich muss erzählen, wie das Gespräch mit Shackleton verlaufen ist. James nickt bestätigt, presst die Lippen aufeinander und bekommt lustig hin und her flitzende Augen. Er zeigt mir den Windmesser, der an das Gestell eines viel zu klein geratenen Regenschirmes erinnert, was aber daran liegen mag, dass ich bei Jimmy James des Ãfteren an Regenschirme denken muss, denn er hat mir erzählt, dass sein Vater Regenschirmmacher ist.
»Schön!«, sage ich zu dem funkelnden Ding.
Und James sagt: »Puste doch mal!«
Ich puste, und sofort dreht sich das kleine Windrad einige Male, völlig lautlos und so leicht, dass es nicht aus Metall zu sein scheint.
»Kommt oben aufs Dach«, meint Hussey, der vor einem ofenartigen Gerät mit mehreren daran montierten Zeigerkästen sitzt. Er plinkert mir zu und sagt: »Jimmy, erzähl du doch mal, wieso Shack dich genommen hat. Wie war das noch, hm?«
Erst ziert sich James ein bisschen, aber dann erzählt er, dass das Ganze im Grunde von Beginn an ein einziger Witz gewesen sei. Er war in Cambridge fast mit dem Studium fertig, als ihn eines Nachmittags ein Nachbar, den er kaum kannte, aus dessen Fenster heraus ansprach und fragte, ob er nicht Lust habe, als Expeditionsphysiker an den Südpol zu fahren.
»Ich sagte ohne zu zögern: Nein. Ein paar Tage später lieà mich mein Professor zu sich kommen und erzählte mir, dass Shackleton, der Antarktisfahrer, händeringend wissenschaftliche Mitarbeiter für die erste Zu-FuÃ-Durchquerung des Kontinents suche. Ob ich interessiert sei. Ich sagte nein, fragte aber, wie lange die Expedition unterwegs sein würde. Professor Shipley wusste es nicht. Aber ich sei doch Physiker, sagte er, ich könne mir doch ausrechnen, wie lange man zu Fuà für etwa 3000 Kilometer brauche.«
Hussey lacht leise, während er mit einem Fingernagel gegen das Glas eines Zeigerkastens klopft.
»Und das ist nur der Anfang«, sagt er.
James erzählt weiter: »Drei Wochen später kam ein Telegramm von Shackleton persönlich. Er beorderte mich nach London in sein Büro. Shipley hatte mich derweil weich gekocht und mit allem Möglichen geködert. Also fuhr ich hin. Das Gespräch dauerte keine fünf Minuten. Shackleton fragte mich nach dem Zustand meiner Zähne, wollte wissen, ob ich Krampfadern hätte, ob ich gutmütig sei und ob ich singen könne. Die letzte Frage verwunderte mich dann doch etwas, deshalb fragte ich nach, und er sagte: Oh, ich meine nicht wie Caruso. Es reicht, wenn Sie mit den anderen mitgrölen können.«
Wir witzeln und feixen eine Weile, und Hussey stimmt sogar ein Liedchen an, damit ich das Grölen von James kennen lerne. Dann ist er an der Reihe. Er erzählt, dass er als Anthropologe der Wellcome-Expedition im Sudan war, als er in einer alten Zeitung Shackletons Aufruf las. Er bewarb sich und wurde zum Vorstellungsgespräch geladen. Es verlief ganz ähnlich. Shackleton musterte ihn ein paarmal, ging ein paarmal auf und ab und sagte schlieÃlich: »Ich nehme Sie. Sie sehen lustig aus.« Dass Hussey so gut wie keine Ahnung von Meteorologie hatte, spielte keine Rolle. Er sollte einen Intensivkurs belegen, was er auch tat.
»Ich glaube, wonach er sucht«, sagt Hussey, »ist Vielseitigkeit. Er wollte keine Spezialisten dabeihaben, sondern Männer, die Talent zu möglichst vielem haben. Er hat eine genaue Vorstellung von der Balance der Mannschaft, glaubt es mir. Sie soll für jede Situation gerüstet sein.«
»Abgesehen davon, dass er Recht hat«, sagt James. »Du siehst lustig aus, Uzbird!«
Stimmt. Alles an Hussey ist kleiner als gewöhnlich. Er sieht aus wie der niedliche Vertreter einer Gattung, von der es nur ein Exemplar gibt, nämlich ihn. Aber er ist nicht nur der kleinste an Bord, sondern auch der schnellste, wie mit dem Kopf so mit dem Mundwerk. AuÃerdem spielt er Banjo, was zwar nicht alle mögen, doch was keiner missen will, denn Uzbird kennt lauter traurig-schöne Melodien. Er begleitet mich noch ein Stück über das verschneite Deck und erklärt mir, dass, was das Wetter
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