Der eiskalte Himmel - Roman
zum südlichsten Körperteil auf Erden zu erklären, nutze ich den ruhigen Tag auf der Packeislagune, um in Weddells »Reise nach dem Süd-Pole, veranstaltet in den Jahren 1821â1824« nachzulesen, was der Kapitän der JANE über die »Stinker« zu sagen hat; so nämlich heiÃen die Riesensturmvögel für ihn, seit er mit ansieht, wie ein einziger Schwarm »in wenigen Stunden wohl zehn Tonnen See-Elefantentran frisst«.
Weddell schätzt, dass nach 30 Jahren Robbenjagd im Südmeer 20000 Tonnen See-Elefantentran auf dem Londoner Markt verkauft und mehr als 1,2 Millionen Pelzrobbenfelle von amerikanischen und britischen Robbenschlägern erbeutet worden sind. Bob Clarks Lippen verengen sich zu einem untröstlichen Strich, als ich ihm die Zahlen präsentiere, und die anderen wollen sich ihre Laune nicht verderben lassen.
Aber mit der Ruhe ist es ohnehin vorbei. Als wir den See im Eis am Abend durchquert haben, kündigt ein von allen Seiten kommender, ab- und anschwellender Scharrlaut ein groÃes Treibeisfeld an. Wie groà es wirklich ist, wissen wir, als es zwei Tage lang so klingt, als würden wir durch Kies fahren, egal wohin an Bord man sich flüchtet, um zu lesen oder sich einfach bloà unbemerkt die Ohren zuzuhalten.
In der Woche vor Weihnachten passieren wir zwischen dem 60. und 65. Breitengrad in gebührendem Abstand eine Flotte gigantischer Eisberge. Einige sind mehrere Quadratkilometer groÃ, alle aber über hundert Meter hoch und vollkommen flach, so dass ich mit eigenen Augen sehe, weshalb sogar die erfahrensten Navigatoren und Geologen von früher glaubten, Land entdeckt zu haben, das, obwohl sorgsam in den Karten verzeichnet, kein Mensch je wiederfand. Scheinbar unbeweglich treibt ein Tafeleisberg im Meer, die Dünung bricht sich an seinen weiÃen oder blauen Klippen und die Wogen spritzen daran hoch wie die Brandung an einem Riff. Es gibt Eisberge, durch die die See Tunnel gebohrt und in die sie tiefe, nicht einsehbare Höhlen gegraben hat, und jede sich darin brechende Welle hallt dröhnend in den nachtblauen Kammern wider. Im Wasser sieht man den Schatten des Bergs, aber man kann sich nie sicher sein, ob dieses dunkle, bis ans Schiff reichende Feld nicht doch sein unter Wasser verborgener Rumpf ist, in dessen Innern Eis und Geröll lautlos durchs Meer schwimmen. »Wracks einer vernichteten Welt« nennt Forster die Eisberge der Antarktis. Ist wieder einer vorüber, atmen wir auf und lauschen eine Zeit lang beruhigt dem rauen Klatschen der Wellen gegen das geschmeidig wogende Packeis.
Die Tage vergehen mit dem Auffinden von Spalten und Rissen, durch die wir uns hindurchzwängen können, und der stets aufs Neue ernüchternden Einsicht, dass auch der breiteste Durchlass vor einer Barriere endet, wo wir entweder kehrtmachen und anderswo suchen oder uns in endlosem, die Nerven blank reibendem Vor- und ZurückstoÃen das nächste Wegstück freirammen müssen. Seit dem herrlichen Tag auf der Lagune sind die beim Eisbrechen nutzlosen Segel nicht mehr aus ihren Gatten herausgekommen. Wir fahren ausschlieÃlich unter Dampf, was dazu führt, dass jeder freie Mann, sei er Offizier, Wissenschaftler oder Teerjacke, zum Kohleschippen eingeteilt ist. Und so haben die auf den Meter genau berechneten RammstöÃe, bei denen sich der Bug auf das Eis hebt, bis er zurückgleitet und von neuem gegen die zerdrückte und aufgebrochene Stelle gelenkt wird, bereits die Hälfte der Kohle aus McNeishs Riggbunker verschlungen, und das, obwohl wir noch nicht über den südlichen Polarkreis hinaus sind.
Shackleton wollte Ende Dezember in der Vahselbucht festgemacht haben. Das Neujahrsfest sollte bereits in einer ersten fertigen Hütte gefeiert werden. Aber am ersten Weihnachtsmorgen trennen uns von der Einfahrt ins Weddellmeer immer noch 500 Kilometer, und durch das halbe Meer hindurch, von dem keiner weiÃ, wie viel Eis dort auf uns wartet, müssen wir ja auch noch. Mit der ihm eigenen Nüchternheit, die auf etwas wie Feststimmung keine Rücksicht nehmen kann, rechnet uns Greenstreet im Kerzenschein des geschmückten Ritz vor, dass wir mit unserer bisherigen durchschnittlichen Tagesleistung von 50 Kilometern voraussichtlich Ende Januar Vahsel erreichen werden. Und alle wissen wir, dass uns Greenstreet auf seine steife Art Mut machen will. Doch das ändert nichts daran, dass seine uns
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