Der Engel Esmeralda
Depressionen?«
»Die Langsamkeit von Sonntagen. Hat was mit dem Gleißen zu tun, dem Geruch nach warmem Gras, dem Gottesdienst,den Verwandten, die herausgeputzt zu Besuch kommen. Der ganze Tag dauert irgendwie ewig.«
»Ich mochte Sonntage auch nie.«
»Sie waren langsam, aber nicht faul-langsam. Lang und heiß oder lang und kalt. Im Sommer machte meine Oma Limonade. Es gab einen Ablauf. Der ganze Tag wurde vorher praktisch durchgeplant, und der Ablauf änderte sich eigentlich nie. In der Erdumlaufbahn ist das anders. Da ist der Ablauf befriedigend, gibt unserer Zeit Gestalt und Substanz. Die Sonntage früher waren ungestalt, auch wenn man wusste, was kam, wer kam, was wir alle sagen würden. Noch bevor jemand den Mund aufgemacht hatte, wusste man schon, was er sagen würde. Ich war das einzige Kind weit und breit. Die Leute haben sich gefreut, mich zu sehen. Ich wollte mich immer am liebsten verstecken.«
»Und wieso keine Limonade?«, frage ich.
Ein unbemannter Kampfleitsatellit berichtet von Hochenergie-Laseraktivitäten im Orbitalsektor Dolores. Wir holen unsere Laser-Sets heraus und beschäftigen uns eine halbe Stunde lang intensiv mit ihnen. Die Strahlprozedur ist komplex, und da die Konsole nur bei gemeinsamer Steuerung funktioniert, müssen wir die Abfolge der vorgeschriebenen Standardmaßnahmen mit äußerster Sorgfalt einüben.
Eine Anmerkung zur Erde. Die Erde ist das Reservat von Tag und Nacht. Sie trägt eine gesunde, ausgeglichene Abwechslung in sich, ein natürliches Wachen und Schlafen, so will es einem, der dieser Gezeitenwirkung enthoben ist, jedenfalls scheinen.
Deshalb fand ich Vollmers Bemerkung über Sonntage in Minnesota interessant. Er spürt oder behauptet oder glaubt, diesenzutiefst erdgebundenen Rhythmus immer noch zu spüren.
In dieser Entfernung kommt es einem Menschen vor, als existierten die Dinge in ihrer spezifischen physikalischen Form, um die verborgene Einfachheit einer machtvollen mathematischen Wahrheit zu enthüllen. Die Erde enthüllt uns die einfache, Ehrfurcht einflößende Schönheit von Tag und Nacht. Sie ist da, um diese konzeptuellen Ereignisse einzubinden und in sich zu tragen.
Vollmer in Shorts und Saugclogs ähnelt einem Highschool-Schwimmer, nahezu haarlos, ein unfertiger Mann, dem nicht bewusst ist, dass er erbarmungslos gemustert wird, nicht bewusst, dass er ohne Hilfsmittel ist, wie er so mit verschränkten Armen an einem Ort mit hallenden Stimmen und Chlordämpfen steht. Der Klang seiner Stimme hat etwas Dummes an sich. Sie ist zu direkt, eine tiefe Stimme aus den oberen Bereichen des Mundes, leicht beharrlich, etwas laut. Vollmer hat in meiner Gegenwart noch nie etwas Dummes gesagt. Nur seine Stimme ist dumm, ein ernster, nackter Bass, eine Stimme ohne Tonfall oder Atem.
Wir haben es nicht eng hier. Das Flugdeck und die Mannschaftsunterkünfte sind mit Verstand entworfen. Das Essen ist ordentlich bis gut. Es gibt Bücher, Videokassetten, Nachrichten und Musik. Wir absolvieren die manuellen Checklisten, die mündlichen Checklisten, die Abschusssimulationen ohne ein Zeichen von Langeweile oder Nachlässigkeit. Wir werden höchstens immer besser in unseren Pflichten. Die einzige Gefahr ist das Gespräch.
Ich versuche, unsere Gespräche auf der Alltagsebene zu halten. Ich achte darauf, über kleine Dinge, Routinedinge zusprechen. Das erscheint mir sinnvoll. Unter den gegebenen Umständen ist es eine sichere Taktik, wenn wir nur über vertraute Themen und banale Angelegenheiten reden. Ich möchte eine Struktur aus Gemeinplätzen aufbauen. Vollmer hingegen neigt dazu, Riesenthemen anzuschneiden. Er will über den Krieg sprechen und die Waffen des Krieges. Er will globale Strategien, globale Aggressionen diskutieren. Ich sage zu ihm, jetzt, wo er die Erde nicht mehr als kosmisches Auge beschreibt, will er sie als Spielkonsole oder Computermodell sehen. Er starrt mich mit Pokerface an und versucht, mich in eine theoretische Auseinandersetzung zu verstricken: gezielte weltraumgestützte Attacken versus lange, lang anhaltende, variierende Land-See-Luft-Einsätze. Er zitiert Fachleute, nennt Quellen. Was soll ich sagen? Er wird behaupten, die Leute seien enttäuscht vom Krieg. Der Krieg schleppt sich in die dritte Woche. In gewisser Weise ist er ausgelaugt, ausgespielt. Das entnimmt Vollmer den Nachrichten, die wir gelegentlich empfangen. Etwas in der Stimme des Ansagers lässt eine Enttäuschung ahnen, eine Erschöpfung, eine schwache Bitterkeit über –
Weitere Kostenlose Bücher