Der Engel Esmeralda
Irrer.«
»Ist der Strom ausgefallen?«
»Nein.«
»Und beim ersten Mal?«
»Ich bin mir nicht sicher, weißt du.«
»Gut. Ich auch nicht. Gab es irgendwann mal ein Leuchten am Himmel?«
»Ist mir nicht aufgefallen.«
»Vielleicht haben wir es da mit einem Mythos zu tun.«
»In der Zeitung stand, vielleicht sei ein Kraftwerk ausgefallen, was durch einen Kurzschluss ausgelöst wurde. In diesem Punkt herrscht Verwirrung.«
»Aber wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht.«
»Siehtso aus«, sagte er.
»Gut. Das freut mich.«
Er lief bei ihr unter dem Namen ›Der englische Junge‹, dabei war er sechsunddreißig, geschieden, anscheinend arthritisch und nicht mal Engländer. Aber er verspürte das typisch englische Entzücken über das griechische Licht, während Kyle nichts anderes sah als chemischen Dunst, der um die Ruinen waberte. Und er hatte das propere altmodische Gesicht eines Schuljungen auf einem offiziellen Porträtfoto, drahthaarig und nachdenklich.
»Wo war das Epizentrum?«, fragte sie.
»Fünfundsechzig Kilometer westlich.«
»Tote?«
»Dreizehn bislang.«
»Was unternehmen wir?«
»In welcher Hinsicht?«, fragte er.
»Alles. Die ganzen Nachbeben.«
»Wir hatten schon zweihundert davon. Es soll viele Wochen andauern. Lies mal Zeitung. Monate vielleicht.«
»Hör zu, Edmund. Ich möchte heute Nacht nicht allein sein. Ja?«
Sie lebte in einer Pause. Sie pausierte immer, wenn sie allein in ihrer Wohnung war, um zu lauschen. Ihr Gehör entwickelte eine Reinheit, eine differenzierende Schärfe. Sie saß an dem kleinen Tisch, an dem sie aß, und lauschte. Das Zimmer hatte ein Dutzend Klänge, vor allem Tonstörungen, Druck, der sich in den Wänden löste, und sie folgte alldem und wartete. Es gab eine zweite und sicherere Hörebene, die sie für Straßenlärm und den hochkommenden Fahrstuhl freihielt. Die Gefahr lag komplett drinnen.
EinRascheln. Ein sanftes Schwanken. Sie kauerte in der offenen Tür wie ein Atomkind.
Die Erschütterungen drangen in ihren Blutkreislauf. Sie lauschte und wartete. Sie konnte nachts nicht schlafen und holte das tagsüber gelegentlich nach, döste in einem ungenutzten Raum in der Schule. Sie fürchtete das Nachhausekommen. Sie betrachtete das Essen auf ihrem Teller und stand manchmal auf, wachsam lauschend, bereit zu gehen, nach draußen zu gehen. Irgendwo gab es bestimmt etwas Witziges daran, dass ein Mensch reglos über seinem Essen steht, ein Spürchen Richtung Tür gebeugt, die Fingerspitzen auf der Tischkante.
Stimmt es, dass Hunde und Katzen vor einem größeren Erdbeben flüchten? Sie meinte, irgendwo gelesen zu haben, dass die Leute in Kalifornien regelmäßig die Kleinanzeigen in der Zeitung durchschauen, ob die Anzahl entlaufener Hunde auffällig angestiegen ist. Oder haben wir es hier mit einem Mythos zu tun?
Der Wind ließ die Fensterläden hin und her schlagen. Sie lauschte den Kanten des Zimmers, den Nahtstellen. Sie hörte alles. Sie stellte eine Tragetasche an die Tür, für eilige Aufbrüche – Geld, Bücher, Pass, Briefe von zu Hause. Sie hörte die Glocke des Messerschleifers bimmeln.
Sie las die Zeitungen nicht, aber schätzte, dass es der letzten Zählung nach über achthundert Erschütterungen gegeben hatte und an die zwanzig Tote, mit Hoteltrümmern und Zeltstädten in der Nähe des Epizentrums und Menschen, die in Teilen von Athen unter freiem Himmel lebten, da ihre Häuser für unsicher gehalten wurden.
Die Kartenspieler trugen ihre Mäntel auch drinnen. Sie ging an den beschnittenen Maulbeerbäumen vorbei und überden Straßenmarkt und betrachtete die Eierverkäuferin und fragte sich, was sie ihr wohl sagen könnte, damit sie beide sich beim Feilschen in ihrem ganz anständigen Griechisch besser fühlten. Ein Mann hielt ihr die Fahrstuhltür auf, aber sie winkte höflich ab und nahm die Treppe. Lauschend betrat sie ihre Wohnung. Die Terrassenmarkisen beulten sich im Wind und klatschten zurück. Sie wünschte, ihr Leben wäre wieder episodisch und ohne Vorsatz. Und sie eine anonyme Fremde – samtpfotig, selbstverantwortlich, zufrieden mit Zufallsbeobachtungen. Sie wünschte, sie könnte in ihrem Arbeiterbezirk mit Großmüttern und Kindern auf der Straße Belanglosigkeiten austauschen.
Im Geist probte sie ihre Flucht. Soundsoviele Schritte vom Tisch zur Tür. Soundsoviele Treppen bis zur Straße. Sie glaubte, wenn sie es sich vorher vorstellte, würde es reibungsloser verlaufen.
Der Lotterieverkäufer schrie: »Heute,
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