Der Engelspapst
für sich selbst ein, wissend, dass die Journalistin es nicht anders halten würde. Sie waren Zweckverbündete, keine Freunde. Letzteres hatte er sich, durchaus mit einigem Bedauern, noch einmal klargemacht.
Elena war ebenso gescheit wie attraktiv, aber wie konnte er ihr, einer Journalistin, vertrauen?
Sein scheinbar zielloser Weg hatte ihn nach Trastevere geführt, in jenes alte Viertel, das wie der Vatikan jenseits des Tibers lag und in dem die engen, labyrinthischen Gassen das einfache Leben vergangener Jahrzehnte konserviert hatten. Verwitterte, pflanzen-umrankte Balkone und Wäscheleinen, die quer über die Gassen gespannt waren, beschworen die Bilder alter Kinomärchen herauf, und unversehens hielt man Ausschau nach der jungen Sophia Loren oder nach der Lollobrigida. Und irgendwo über den schiefen Dächern schwebte der Geist von Fellini.
Erst als Alexander vor dem versteckten kleinen Hotel stand, mit dem die quälende Erinnerung an schöne Stunden verbunden war, Stunden, die noch nicht lange vergangen und doch unendlich weit entfernt waren, begriff er, dass seine Wanderung keineswegs ziellos gewesen war. Hastig entfernte er sich von dem Hotel und verdrängte den Schmerz.
Irgendwann wurde er hungrig und suchte eines der vielen einfachen Lokale auf, in denen mehr Einheimische als Touristen speisten und in denen man nicht dazu verdonnert war, zwei Gänge zuzüglich Vor- und Nachspeise zu ordern. Er bestellte eingelegte Auberginen und Spaghetti alla carbonara und trank nur Wasser, um für das Treffen mit Daneggers Freundin einen klaren Kopf zu bewahren.
Zehn Minuten vor der Zeit war er am Ponte Sisto eingetroffen.
Das war jetzt eine halbe Stunde her, und noch immer gab es keine Spur von Raffaela Sini. Allmählich fürchtete er, dass sie es sich vielleicht anders überlegt und ihn versetzt hatte. Jedes Mal, wenn sich ein Schatten aus dem Gerüstgewirr der Fußgängerbrücke löste, blickte Alexander ihm neugierig entgegen, und jedes Mal wurde er enttäuscht. Die alte Brücke, die Trastevere mit dem römischen Zentrum verband, war gänzlich eingerüstet; sie sollte renoviert, die Bausubstanz erhalten werden. Bis hinunter ins Wasser reichte das Konglomerat aus metallenen Pfeilern, Verstrebungen, Leitern und Trittgittern.
Als Alexander zum Tiber hinuntersah, fiel ihm ein seltsamer Gegenstand auf, der knapp über dem Fluss am Gerüst hing. Eine Art Pendel, das in unregelmäßigem Takt hin und her schlug und dabei mit dem unteren Ende durchs Wasser strich. Etwa so groß wie ein Mensch. Das Licht der zigtausend Lampen, die Rom nächtlichen Glanz verliehen, drang kaum bis in den Schatten der Brücke vor. Alexander war kein Fachmann für die Renovierung alter Brücken, doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu dieser Gegenstand dienen sollte.
Eine unheilvolle Ahnung erfasste ihn, und er ging eilig zum Ufer hinunter, bis das Wasser um seine Schuhe plätscherte. Von hier sah er den eigenartigen Gegenstand genauer, und seine Ahnung wurde zur schrecklichen Gewissheit.
Er kletterte auf das Gerüst, der Brückenmitte entgegen. Sein Herz klopfte, sein Atem ging schneller. Vielleicht konnte er noch etwas ausrichten, wenn er nur schnell genug war. Die rauen Kanten der Verstrebungen fügten seinen Händen mehrere Schnittwunden zu. Er achtete nicht darauf. Nur an zwei Dinge dachte er: daran, den Halt nicht zu verlieren, und an das Pendel, das kein Pendel war.
Jetzt, da er es fast erreicht hatte, sah er es deutlich. Zwei Füße strichen immer wieder durch das Tiberwasser, der eine beschuht, der andere nur mit einem dunklen Strumpf bekleidet.
Darüber ein Körper in einem einfachen, weit geschnittenen Kleid. Zwei Arme, die kraftlos an den Seiten hingen. Leblos wie der Kopf mit dem blonden Haar, das lang und wirr auf die Schultern fiel. Ein paar Strähnen kräuselten sich in dem schmalen Gesicht. Die Augen, die Alexander am frühen Nachmittag im Magazin so ängstlich angesehen hatten, blickten starr auf den Fluss. Um Raffaela Sinis Hals lag ein dicker Strick, dessen anderes Ende etwa einen Meter über ihr an einer Gerüstverstrebung verknotet war.
Vorsichtig, als könne er ihr schaden, streckte Alexander eine Hand nach Raffaelas Gesicht aus. Die Haut war noch warm, aber Mund und Nase entströmte nicht der leiseste Atemhauch. Die Gegenwart des Todes zog ihn in ihren Bann, ließ ihn alles um sich her vergessen. Er sah die toten Gesichter von Heinrich und Juliette vor sich, und die Bilder seines stets
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