Der entzauberte Regenbogen
zur Ermittlung von Durchschnittswerten – ihr Effekt ist nicht unähnlich den Berechnungen, auf die wir unseren Computer in der gerade beschriebenen Analyse programmiert haben.
Eine Spezies kann verschiedene Lebensweisen besitzen, die unter Umständen grundverschieden sind. Eine Raupe und der Schmetterling, zu dem sie sich entwickelt, gehören zur gleichen Spezies, aber unser Zoologe würde für sie zwei völlig verschiedene Lebensweisen rekonstruieren. Raupe und Schmetterling teilen sich die gleiche Genausstattung und die Gene müssen beide Umgebungen beschreiben, aber das geschieht getrennt. Vermutlich sind einige von ihnen in der wachsenden, Pflanzen fressenden Raupe «ausgeschaltet», und im ausgewachsenen Tier, das sich von Nektar ernährt und sich fortpflanzt, ist ein ganz anderes Gensortiment am Werk.
Auch die Lebensweisen von Männchen und Weibchen der meisten Arten unterscheiden sich zumindest ein wenig. Bei den Anglerfischen ist dieser Unterschied ins Extrem gesteigert: Das Männchen hängt als winziger, parasitischer Fortsatz an dem riesigen Weibchen. Bei uns Menschen, aber auch bei den meisten anderen Arten, enthalten Männchen und Weibchen fast alle Gene, die für die männliche oder weibliche Lebensweise erforderlich sind. Unterschiede gibt es im Wesentlichen in der Frage, welche Gene aktiv sind. Wir alle besitzen Gene zur Herstellung eines Penis und Gene zur Herstellung einer Gebärmutter, ganz gleich, welchem Geschlecht wir angehören. Wenn unser Zoologe der Zukunft nur im Körper eines Männchens oder eines Weibchens läse, erhielte er ein unvollständiges Bild von der früheren Umwelt der Spezies. Die Gene eines beliebigen Angehörigen der Spezies dagegen würden fast ausreichen, um das Spektrum der Lebensweisen, mit denen die Art Bekanntschaft gemacht hat, umfassend nachzuzeichnen.
Ein Phänomen, das unter dem Gesichtspunkt des genetischen Totenbuches besonders faszinierend erscheint, sind die parasitisch lebenden Kuckucke. Wie allgemein bekannt ist, werden sie von Pflegeeltern großgezogen, die nicht zu ihrer eigenen Art gehören. Ein Kuckuck sorgt nie für seine eigenen Jungen. Bei den Pflegeeltern handelt es sich aber nicht immer um die gleiche Art. In Großbritannien übernehmen manchmal Wiesenpieper diese Funktion, manchmal Teichrohrsänger, seltener Rotkehlchen und verschiedene andere Arten, aber die größte Zahl wird von Heckenbraunellen versorgt. Und zufällig ist Nicholas Davies von der Universität Cambridge, der wichtigste Experte für Braunellen, gleichzeitig der führende Fachmann für die Biologie der Kuckucke. Ich stütze mich mit meiner Beschreibung auf die Arbeiten, die Davies und sein Kollege Michael Brooke veröffentlicht haben, denn sie lassen sich besonders gut in den Begriffen von der «Erfahrung» einer Spezies mit der früheren Umwelt wiedergeben. Wenn nicht anders angegeben, geht es um den gewöhnlichen Kuckuck ( Cuculus canorus ) in Großbritannien.
Ein Kuckucksweibchen legt seine Eier in der Regel in Nester der gleichen Spezies wie seine Mutter, seine Großmutter mütterlicherseits, seine Urgroßmutter mütterlicher-mütterlicherseits und so weiter – allerdings mit einer Fehlerquote von 10 Prozent. Vermutlich lernen die jungen Weibchen, welche Eigenschaft das Nest der Pflegefamilie haben soll, und wählen es dann entsprechend aus, wenn für sie selbst die Zeit zur Eiablage kommt. Was die Weibchen angeht, gibt es also Heckenbraunellen-Kuckucke, Teichrohrsänger-Kuckucke, Wiesenpieper-Kuckucke und so weiter. Diese Eigenschaft teilen sie mit ihren Vorfahren in der weiblichen Linie. Aber es handelt sich dabei nicht um verschiedene Arten, ja noch nicht einmal um Rassen im üblichen Sinn des Wortes, wenn sie auch im Deutschen als «Wirtsrassen» bezeichnet werden. Eine Wirtsrasse ist keine echte Rasse oder Art, weil die Männchen nicht zu verschiedenen Wirtsrassen gehören: Sie legen keine Eier und müssen deshalb auch kein Nest auswählen. Wenn sich ein männlicher Kuckuck paart, spielt dabei die Wirtsrasse seiner Partnerin ebenso wenig eine Rolle wie die Arten, die beiden als Pflegeeltern gedient haben. Demnach werden Gene zwischen den Wirtsrassen ausgetauscht – die Männchen tragen sie von einer Wirtsrasse der Weibchen zur anderen. Die Mutter eines Weibchens und seine weiteren Vorfahren der weiblichen Linie gehören alle zu derselben Wirtsrasse, aber die Großmütter und die beiden Urgroßmütter väterlicherseits sowie alle weiteren Vorfahren, mit denen das
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